Die Klinge: Roman (German Edition)
wandte er sich zu Janet. »Ist das für dich in Ordnung? Bis zu Emily Jeans Haus sind es nur ein paar Kilometer von hier.«
»Gut. Gehen wir.«
60 NACHTWACHE
Albert saß am Fenster eines Schlafzimmers im Obergeschoss und beobachtete die Straße. Gelegentlich drangen die Scheinwerfer eines Autos durch den Nebel und die Dunkelheit.
Ein Wagen bremste ab, als er sich näherte. Albert hörte auf, auf dem Stück Schweizer Käse zu kauen, das er im Mund hatte, bis das Auto in eine Einfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite bog. Dann kaute er weiter, doch sein Mund war plötzlich trocken. Der Käse wurde zu einer geschmacklosen Masse, und er bekam ihn kaum noch herunter. Er legte den Rest des Stücks neben seinem Messer auf die Fensterbank.
Eine Katze trabte lautlos über die Straße und verschwand unter einem geparkten Toyota.
Ein alter Mann mit Gehstock und Zigarre ging vorbei. Er trug eine Baskenmütze und schwang fröhlich seinen Stock.
Später kam eine Frau im Morgenmantel aus einem Haus auf der anderen Straßenseite, um ihren Pudel sein Geschäft verrichten zu lassen. Der winzige Hund kam dem Toyota zu nahe, und die Katze sprang darunter hervor. Scheinwerfer beleuchteten sie von der Seite, als sie über die Straße huschte. Eines ihrer Augen leuchtete gespenstisch gelb auf. Dann war die Katze in Sicherheit.
Das Auto wurde langsamer und bog ab.
Albert schnappte sich den Käse und das Messer, rückte den Stuhl zurecht und verließ das Zimmer. Er lief den Flur entlang zu dem anderen Schlafzimmer, dem Zimmer mit dem Poster eines Rockstars an der Wand. Das Zimmer der Tochter, nahm er an.
May Beths Zimmer.
Er warf den Käse in eine Kommodenschublade. Dann stellte er sich hinter die offene Tür an die Wand.
Und wartete.
61 EMILY JEANS HAUS
Janet hielt in der Einfahrt und schaltete das Licht und den Motor aus. »Ich glaube, wir sind da«, sagte sie.
»Wir sollten dafür sorgen, dass Lester sicher ins Haus kommt«, sagte Ian vom Beifahrersitz aus. Er öffnete die Tür und stieg aus.
»Wer sind Sie?«, fragte Lester von hinten.
»Janet.«
»Ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.«
»Ich bin Vertretungslehrerin«, sagte sie. »Heute war mein erster Tag.«
»Eine Vertretung?«
»Für Mrs. Bonner.«
»Emily Jean?«
»Ja.«
Ian war zu Janets Seite hinübergegangen und öffnete ihr die Tür. Als sie ausstieg, wurde auch die Fondtür aufgestoßen.
Die drei gingen über den Gehweg zur Veranda vor dem Haus.
»Kennen Sie Emily Jean?«, fragte Lester Janet.
»Nein.«
»Ich schon. Wie stehen uns sehr nahe. Ich passe auf ihr Haus auf, während sie weg ist.«
»Wo ist sie?«, fragte Ian.
»In Denver.«
»Bei May Beth?«
»Woher weißt du das?«
»May Beth spielt in Denver in einem Film mit, oder?«
»Spielte«, sagte Lester. »Jetzt nicht mehr, nehme ich an.«
»Nicht?« Ian klang aufgebracht. »Was ist passiert?«
»Sie wurde verletzt, irgendwie. Schnittwunden. Der Arzt hat zu Emily Jean gesagt, ihr Zustand sei kritisch.«
Ian blickte ihn fassungslos an.
»Sie kommt wieder auf die Beine«, sagte Janet schnell. »Emily Jean hat heute Harrison angerufen. Ihre Tochter wird sich wieder erholen, aber ich soll die ganze nächste Woche für Emily Jean einspringen. Vermutlich bleibt sie eine Weile weg.«
Ohne darauf einzugehen, schloss Lester die Haustür auf.
»Wie ist es passiert?«, fragte Ian. Er folgte Lester in den dunklen Flur. Janet blieb dicht bei ihm.
Im Wohnzimmer schaltete Lester eine Lampe an. »Ich weiß es nicht«, sagte er und ließ sich schwer auf das Sofa fallen. »Emily Jean hat gestern einen Anruf bekommen. Sie haben nicht gesagt, was geschehen ist. Nur, dass May Beth Schnittwunden hat. Ich weiß es nicht.«
»Es war ein sexueller Übergriff«, erklärte Janet.
Ian sah aus, als wäre ihm übel.
»Vielleicht kannst du im Krankenhaus anrufen«, schlug Janet vor. »Sie würde sich bestimmt freuen, von dir zu hören.«
»Weiß jemand, in welchem Krankenhaus sie liegt?«, fragte Ian.
Janet schüttelte den Kopf.
Lester nickte und rieb sich die Schläfen. »General … County General, glaube ich.«
Ian nahm den Hörer des Telefons ab, das gleich neben dem Sofa stand.
»Entschuldigt mich«, sagte Lester. Er stand auf. »Ich bin gleich zurück.«
Während Ian die Nummer der Auskunft wählte, ging Lester zur Treppe.
62 DIE STRAFE
Am Fuß der Treppe drückte Lester auf den Lichtschalter. Oben ging eine Lampe an. Seine Beine fühlten sich schwer an, als er
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