Die Klinge: Roman (German Edition)
sehen uns später.«
Als er gegangen war, sagte Ronald: »Dale ist gut darin, Leute zu retten.«
»Allerdings. Was für eine Erleichterung.« Janet schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Wein.
»Sie haben ein interessantes Kostüm«, sagte Ronald. »Hat Pocahontas wirklich Jeans getragen?«
Schon wieder Pocahontas. Na toll.
»Ja. Das ist eine historische Tatsache. Steht alles in den Tagebüchern von John Smith.«
»Glauben Sie, es lag am Wetter oder an ihrem Schamgefühl?«
»Wahrscheinlich von beidem ein bisschen.«
»Vermutlich«, stimmte Ronald zu. »Was meinen Sie, wie sie mit Hamlet klargekommen wäre?«
»Dem König oder dem Prinzen?«
»Dem König natürlich. Der Prinz war ja noch grün hinter den Ohren.«
»Aber der König war verheiratet.«
»Mit Gertrude. Wie schrecklich. Können Sie sich vorstel len, wie es sein muss, mit Gertrude zusammenzuleben?«
»Nicht so ganz.«
»Ich mir auch nicht. Muss ziemlich hart für ihn gewesen sein. Was er wirklich brauchte, war vielleicht eine Pocahontas.«
Großartig.
»Ach ja?«, fragte Janet. Sie konnte eine gewisse Schärfe in ihrem Tonfall nicht unterdrücken.
»Oh, Entschuldigung. Das war nur ein Spaß. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Sie denken womöglich, ich wäre genauso schlimm wie dieser Baker. Verzeihen Sie mir?«
»Kein Problem. Wir haben über Pocahontas und Hamlet geredet, nicht über uns, stimmt’s?«
»Natürlich.«
Sie sah ihm in die Augen. »Pocahontas lässt sich nicht mit verheirateten Männern ein.«
»Ich verstehe vollkommen.«
51 NEUANKÖMMLINGE
Ian beobachtete, wie eine Frau, die wie eine Braut aussah, aus einem grauen Mercedes stieg. Doch sie trug keinen Schleier und Pantoffeln statt Schuhen.
Der fließende weiße Stoff war auch kein Hochzeitskleid, stellte Ian fest, als er über die Straße auf sie zuging. Es handelte sich um ein Nachthemd.
»Hallo, Mary«, rief er.
Sie blieb stehen und drehte sich um. Die sanfte Brise drückte das Nachthemd gegen ihre Beine. »Ian?«
»Genau.«
»Ich bin froh, dass ich deine Stimme gehört habe, bevor ich dich gesehen habe. Du siehst furchterregend aus.«
»Danke. Und du siehst entzückend aus.«
»Ich danke dir , Ian.«
Während sie über den Bürgersteig gingen, ließ er den Blick von ihrem Gesicht nach unten schweifen. Das Nachthemd war so tief ausgeschnitten, dass es ihre Brüste kaum bedeckte; sie wölbten sich aus dem trägerlosen schwarzen BH , als wollten sie jeden Moment herausspringen. Ihre Unterarme und Hände waren voller roter Flecken. Man konnte die dunkle knappe Unterhose durch den feinen Stoff des Nachthemds deutlich erkennen.
»Lady Macbeth, nehme ich an.«
»Bravo.«
»Bevor ich das Blut gesehen habe, dachte ich an Aschen puttel.«
»Die verdammten Flecke«, sagte Mary.
»Kann ich dir die Tüte abnehmen?«
»Danke.«
Als sie Ian die Tüte reichte, hörte er Flaschen darin klir ren. Ihr Atem roch süßlich nach Alkohol. »Was für ein Kos tüm«, sagte er.
»Ich dachte, etwas Literarisches wäre nett.«
»Es ist literarisch, sexy und gewalttätig«, sagte Ian. »Das perfekte Halloween-Kostüm.«
»Man muss den Kollegen etwas geistige Anregung geben.«
»Du wirst der Mittelpunkt der Party sein.«
»Als was gehst du denn?«
»Ich wollte einfach nur gruselig aussehen.«
»Tja, das ist dir gelungen.«
»Danke.«
Mary blickte stirnrunzelnd zu dem beleuchteten Haus. »Ist es dort?«
»Ich glaube schon«, sagte Ian.
Der Weg zur Veranda war schmal, deshalb ließ Ian Mary vorgehen. Ihr Nachthemd, das vom Verandalicht durchdrungen wurde, war nun fast völlig transparent. Ian betrachtete ihren Körper darunter. Dann schämte er sich für seinen Voyeurismus und wandte den Blick ab.
Heute Nacht bekomme ich bestimmt eine Geschichte, dachte er. Ich muss nur Mary im Auge behalten.
Wo Mary auftaucht, lässt der Ärger nicht lange auf sich warten.
Sie stieg auf die Veranda, klingelte und sah Ian über die Schulter an. Aus ihrem Lächeln schloss er, dass sie sich der Wirkung ihres Äußeren bewusst war.
Ian schüttelte verwundert den Kopf. Er fragte sich, wie viel sie schon getrunken hatte.
Die Tür öffnete sich.
Einen Augenblick lang wirkte Dale verblüfft. Dann brachte sie ein Lächeln zustande. »Schön, dich zu sehen, Mary. Und gleich so viel von dir.«
Mary lächelte, als freute sie sich über das Kompliment, und machte einen Knicks. Sie trat ein.
Dale sah mit kaum verhohlener Abneigung zu Ian. Dann sagte sie zu Mary: »Möchtest du
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