Die Klinge
die Tür wieder abschloss und die Kette vorlegte, bemerkte Paula, dass an der Anrichte eine Schrotflinte lehnte. Die Bewohnerin dieses Hauses ging offenbar kein Risiko ein.
Millie war Ende dreißig und ziemlich klein. Sie trug ein sauberes weißes Kleid, das Paula sofort an eine Krankenschwester denken ließ. Braunes, hübsch frisiertes Haar umrahmte ein hageres Gesicht mit freundlichen Augen, mit denen Millie ihre Besucher nun fragend ansah.
»Das sind Engländer«, erklärte Jed. »Andersen hat sie von Portland hergeschickt.«
Tweed war ihm dankbar für seine Wortwahl, weil ihr Besuch auf diese Weise einen offiziellen Anstrich bekam. Er sah sich um und bemerkte einen großen, offensichtlich nagelneuen Fernsehapparat, der ausgeschaltet in einer Ecke des Zimmers stand. Auf dem Tisch standen geschliffene Gläser und vier Flaschen teurer schottischer Whisky. Paula fiel auf, dass auf den billigen Möbeln nicht ein Körnchen Staub lag. Nachdem Jed alle Gäste vorgestellt hatte, bot Millie ihnen mehrere klobige Holzstühle an. Sie selbst setzte sich in einen alten Lehnsessel neben dem Tisch mit den Whiskyflaschen, griff nach einem Glas, das dort stand, und trank daraus.
»Ich habe mir deine Freunde genau angesehen, Jed«, sagte sie. »Ich schätze, man kann ihnen vertrauen.«
»Das freut uns sehr«, erwiderte Newman mit einem breiten Grinsen.
»Wir haben leider nicht viel Zeit, weil wir wieder nach Portland zurückmüssen«, begann Tweed mit ruhiger Stimme. »Ich untersuche den grauenvollen Mord an Hank Foley.«
»Gott sei Dank, dass sich endlich mal jemand darum kümmert. Die anderen haben doch alles getan, um die Sache zu vertuschen. Und ich bin auch nicht viel besser. Man hat mich nämlich bestochen, damit ich den Mund halte.« Millie deutete auf den neuen Fernseher. »Der kam mit dem Whisky. Normalerweise trinke ich ja nicht, aber jetzt genehmige ich mir ab und zu ein Schlückchen.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Paula lächelnd. »Wenn ich durcheinander bin, trinke ich auch gern mal ein Glas Wein.«
»Von wem sind denn die Sachen?«, fragte Tweed.
»Ich weiß es nicht. Ein Lieferwagen hat sie gebracht, aber es war kein Anschreiben dabei. Die zeigen sich nicht.«
»Ist Ihnen während Ihrer Arbeit im Sanatorium denn etwas aufgefallen, was Ihnen merkwürdig vorkam?«
»Da waren immer nur sechs bis zehn Patienten in Behandlung. Für mehr war auch gar kein Platz. Aber zudem gab es eine Gefängniszelle.«
»Eine Gefängniszelle?«, fragte Tweed verwundert.
»Ja. Dort durfte nur Dr. Bryan hinein. Die Zelle hatte eine massive Tür mit zwei Schlössern und Fenster mit Gittern davor. Ein Mr. Mannix war dort untergebracht. Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen, weil Bryan ihm sogar das Essen persönlich gebracht hat. Er hat gesagt, der Patient sei gefährlich. Einmal habe ich einen Blick in die Zelle werfen können, als sie leer war. Sah aus wie in einem Luxushotel.« Jetzt, wo sie einmal angefangen hatte, wurde Millie richtig gesprächig. »Muss ein Vermögen gekostet haben. Mr. Mannix ist erst am Abend des Feuers weggebracht worden. Die anderen waren schon seit Tagen nicht mehr da.«
»Woher wissen Sie, dass der Patient Mannix hieß?« fragte Tweed.
»Sein Name stand auf der Tür der Gefängniszelle. Ihn selber habe ich nur ein einziges Mal gesehen, und auch nur von hinten, nämlich als er bei der Evakuierung des Sanatoriums zu der Limousine gebracht wurde. Er trug einen schwarzen Mantel und war ziemlich groß. Auf dem Kopf hatte er einen seltsamen Hut mit breiter Krempe, die sein Gesicht verdeckte.«
»War das vielleicht eine Art Schlapphut?«, fragte Paula, die ihre Aufregung nur schwer verbergen konnte.
»Ja, das könnte man sagen«, erwiderte Millie. »Ein schwarzer Schlapphut.«
Paula dachte an den Abend in London, an dem ihr die Gestalt mit dem Schlapphut gefolgt war.
»Wie gesagt, Mr. Mannix war der letzte Patient, der das Sanatorium verlassen hat«, ergriff Millie wieder das Wort. »Ich war gerade unten im Keller, wo die Krankenakten aufbewahrt
wurden. Auch Hank Foley war unten, was ziemlich komisch war, weil er dort eigentlich nichts zu suchen hatte. Er stand mit dem Rücken zu mir und hat mich nicht bemerkt. Ich weiß nicht, wie er an den Kellerschlüssel gekommen ist, aber er hat auch sonst ständig herumgeschnüffelt. Ich habe mich dann in einer Nische versteckt und ihn beobachtet. Hank hatte eine Krankenakte in der Hand. Muss von einem der neuen Patienten gewesen sein. Das weiß ich,
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