Die Klingen der Rose: Ein unwiderstehlicher Schurke (German Edition)
Handgelenke und verknotete ihn. Sie zerrte an dem Gürtel, doch er gab nicht nach. Sie war gefesselt und hilflos.
Wut war besser als die Angst, die sie zu überwältigen drohte.
»Das nächste Mal«, grinste er, als sie zornig zu ihm emporstarrte, »tauschen wir die Rollen – dann dürfen Sie michfesseln.«
Zum Glück war sie geknebelt. Mutter hätte ihr die Flüche, die von ihren Lippen kommen wollten, nie verziehen. Dann hob er sie einfach wie einen Sack Federn hoch und warf sie sich über die Schulter.
»Sie müssen mehr essen«, meinte er.
Sie hatte nicht gehört, wie er die Kabinentür öffnete, denn schon huschten sie geräuschlos auf den Flur hinaus. Er schloss die Tür und fingerte einen Augenblick daran herum. Er sperrte die Tür ab. Wenn es ihm gelang, sie unbemerkt vom Schiff zu schaffen, würden die anderen an Bord sie sicher in ihrer Kabine wähnen. Erst am Morgen, wenn Sally versuchte, ihre Kabine zu betreten, würde man Londons Abwesenheit bemerken. Panik trieb sie erneut dazu, sich zu wehren. Wenn sie nur in ihrer Kabine bleiben konnte, dann würde sicher alles gut werden. Aber diese schwache Hoffnung starb, als Drayton den Flur hinuntereilte.
Sie betete, dass sie ihrem Vater begegneten, dem Kapitän, einem Matrosen, irgendjemandem, doch das Schicksal war ihr in dieser Nacht nicht wohlgesonnen. Einmal kam ihnen ein bewaffneter Matrose auf dem Weg zum Dienst entgegen, doch Drayton versteckte sich im Schatten eines Schotts. London versuchte trotz des Knebels zu schreien. Vielleicht konnte sie mit einem Geräusch die Aufmerksamkeit des Matrosen erregen.
»Ruhig«, flüsterte Drayton in ihr Ohr. »Ein Ton und dieser schießwütige Kerl durchlöchert uns beide mit seinen Kugeln. Riskieren Sie das lieber nicht.«
Hatte er recht? London wollte es nicht ausprobieren.
Der Matrose setzte seinen Weg fort.
Drayton erklomm die steile Eisentreppe, die auf das Oberdeck führte. Ein sonderbar sanfter Nebel waberte um das Schiff und ließ alles trübe und unwirklich erscheinen. Matrosen patrouillierten, doch keiner sah, wie Drayton mit ihr an die Reling trat. Niemand kam ihr zu Hilfe. Drayton wollte sie entführen. Sobald sie von dem Schiff herunter war, hatte sie keine Chance mehr. Nein! Sie kämpfte erneut und wand sich hin und her.
Doch Draytons Griff entkam sie nicht. Einen Arm fest um ihre Taille geschlungen, ergriff er mit der freien Hand ein Seil, das mit einem robusten kleinen Haken an der Reling befestigt war. Vorsichtig stieg er mit ihr über die Bordwand, dann seilte er sich leise an der Seite des Schiffes in die Dunkelheit hinab. London konnte nicht glauben, dass er die Kraft besaß, ihres und sein eigenes Gewicht mit einer Hand zu halten, und erwartete jeden Augenblick, mit ihm zusammen ins Meer zu stürzen. Doch er hielt sie fest, bis sie unten anlangten, wo ein winziges kanuartiges Boot am anderen Ende des Seils befestigt war. Drayton legte sie darin ab und löste mit einem kurzen Ruck seines Handgelenks den Haken, der daraufhin herunterfiel. Er fing ihn auf.
»Ein kleines Geschenk von unserem Freund Catullus Graves«, flüsterte er ihr augenzwinkernd zu.
London wusste nicht, wer Catullus Graves war, und es interessierte sie auch nicht, denn schon glitt das Boot über das Wasser und entfernte sich von dem Dampfer. London hob so weit den Kopf, dass sie sah, wie das Schiff in der Nacht weiterfuhr und sie zurückließ.
Vater!, schrie sie stumm.
»Jetzt«, sagte Drayton leise, »dauert es nicht mehr lange, bis … Ah, da sind wir schon.«
Aus der Dunkelheit tauchte wie ein Geisterschiff ein Kaik auf, um das der gleiche leichte Nebel wogte wie um den Dampfer. Ein paar schwach leuchtende Laternen hingen am Baum des Großsegels. London machte die unscharfen Umrisse einiger Menschen aus, die sich über das Deck bewegten. Man hatte sie entführt. Sie war allein. Allein mit einem Schiff voller Fremder. London begann zu zittern. Als Drayton eine große warme Hand auf ihren Knöchel legte, zuckte sie zusammen.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er überraschend freundlich und aufrichtig. »Wir wollen Ihnen wirklich nichts tun.«
London versuchte, sich abzuwenden und die Tränen wegzublinzeln. Sie wünschte, sie wäre Ben Drayton nie begegnet. Sie wünschte, sie hätte nie diese verfluchten Schriften auf dem Schreibtisch ihres Vaters entdeckt. Sie wünschte sich, zu Hause zu sein und in der Sicherheit ihrer Bibliothek vor dem Kamin zu sitzen, wo sie alte Bücher las und von der großen weiten Welt
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