Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
Begriff »Dame«, der Bilder von bemaltem Porzellan und engen, überladenen Räumen hervorrief, schien allerdings unpassend.
Weit davon entfernt, von seiner Anekdote schockiert zu sein, wirkte Thalia Burgess vielmehr unwillentlich beeindruckt. »Ich hätte nichts dagegen zu lernen, wie man eine Spur verfolgt«, sagte sie so leise, dass er sie über das Trampeln der Pferdehufe und den rauschenden Wind hinweg kaum verstand.
»Vielleicht kann ich es Ihnen irgendwann beibringen«, antwortete er. Er wusste nicht, ob er es jemals tun würde, aber die Vorstellung schien verlockend. Er versuchte, seine Gedanken wieder auf die aktuelle Situation zu lenken, anstatt sich vorzustellen, wie er stundenlang allein mit ihr in einem kühlen, feuchten Wald über den Boden kroch. »Sie sollten sich mit den Tatsachen abfinden: Ich bleibe bei Ihnen. Erzählen Sie mir alles. Das ist besser für uns alle.«
»Ich wünschte, ich könnte es«, sagte sie nach einer Weile mit aufrichtigem Bedauern. Er stellte fest, dass er sie gern reden hörte. Sie sprach mit einem ungewöhnlichen Akzent. Englisch, das von einem heiseren, fast russischen Ton gefärbt war. Es klang nach langen Nächten unter Felldecken.
Doch Huntley spürte, wie seine Geduld trotz ihrer bemerkenswerten Stimme langsam nachließ. »Sehen Sie, Miss Burgess«, knurrte er, »wen oder was auch immer Sie schützen … «
»Es ist viel wichtiger als Ihr Pflichtgefühl«, endete sie. Sie drehte sich um und sah ihn direkt an. »Ich nehme meine Verantwortung sehr ernst, Hauptmann. Und dazu gehört, dass ich schweige.«
Huntley antwortete nicht, und das hatte sie auch nicht erwartet. Sie ritten schweigend weiter. Er konnte warten. Auf der Suche nach Ali Jai Khan hatten er und seine Männer tagelang auf der Lauer gelegen. Selbst als es einen ganzen Tag lang regnete und sie umgeben von Moskitos im Matsch lagen, hatten sie lautlos ausgeharrt, bis der Zeitpunkt für die Festnahme des Banditen gekommen war. Es war die Hölle gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Im Vergleich dazu schien die jetzige Situation paradiesisch. Obwohl, vielleicht nicht ganz. Er war ein Soldat, sie die Tochter eines Ehrenmannes. Sie befanden sich zusammen auf einer gefährlichen Mission. Egal was sein Körper wollte, er würde gefälligst die Finger und andere Körperteile von ihr lassen. Er musste einiges herausfinden, und dazu gehörte nicht, wie ihre Lippen schmeckten oder wie sich ihre Haut anfühlte.
Er musste sich damit zufriedengeben, ihre Geheimnisse zu ergründen. Wohin sie ritten. Was sie suchten. Und wieso. Diese Rätsel waren viel einfacher zu lösen als die, die ihm Thalia Burgess aufgab. Ihm war zwar klar, dass ihre Geheimnisse ihn nichts angingen, doch sie faszinierten ihn mehr als alles, das Huntley in seinem bunten Leben bislang begegnet war.
Es dauerte noch eine Weile, bis die Sonne aufging, aber Thalia war bereits wach. Trotz der vielen Stunden im Sattel und obwohl sie von dem harten Tag erschöpft war, hatte sie unruhig geschlafen und schlecht geträumt. Immer wieder sah sie das Gesicht des Mannes vor sich, den sie getötet hatte. Sie sah ihn den Hang hinaufreiten, und jedes Mal hob sie das Gewehr, und es folgte ein lauter unheilvoller Schuss. Doch in ihren Träumen fiel der Mann vom Pferd und rollte immer weiter den Berg hinunter, bis er lang ausgestreckt zu ihren Füßen lag. Dann verwandelte sich sein Gesicht plötzlich in das ihres Vaters, und an ihren Händen klebte leuchtend rotes Blut.
Im Laufe der Nacht war sie mehrfach keuchend und voller Angst aufgeschreckt. Dann hatte sie zu Hauptmann Huntley hinübergesehen, und irgendwie war er jedes Mal wach gewesen und hatte sanft auf sie eingeredet: »Ruhig, Mädchen, die Träume lassen mit der Zeit nach.«
Es kam ihr nicht so vor. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie je wieder würde schlafen können. Doch nachdem Huntley sie beruhigt hatte, nickte sie wieder ein. Sie wusste nicht, wieso sie seine Nähe als tröstlich empfand – und dass es so war, störte sie. Trotzdem schlief sie wieder ein und kehrte zu ihrem Albtraum zurück. Würde das immer so bleiben? Er war der Ansicht, dass nicht. Sie wollte es zumindest glauben.
Als Thalia jetzt ganz erwachte, lag sie still da, blickte zum dunklen Himmel hinauf und appellierte an ihre Stärke und ihre Klugheit. Wenn Batu und sie dem Hauptmann entkommen wollten, mussten sie überaus leise sein, leiser als die Stille selbst. Vermutlich konnte sie ihn mit dem Kolben von Batus schwerem
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