Die Klinik
einem Zweck verschafft.
Er verließ sein Zimmer und drehte die Lichter an, als er durch das Gebäude ging, zuerst hinauf, durch die Sezierkammern, dann an den Büros im zweiten und ersten Stock vorbei. Es war niemand da.
Schließlich stieg er in die Kälte des Leichenschauhauses hinab und tastete nervös nach dem Schalter. Auf den Steinplatten außerhalb der Laden lagen vier Leichen, eine von ihnen die alte Frau, bei deren Obduktion er Dr. Lobsenz assistiert hatte. Er betrachtete das erstarrte Lächeln.
Wer warst du, Tantchen?
Er ging zu einem sehr mageren, wahrscheinlich tuberkulösen Chinesen.
Bist du sehr weit weg von daheim gestorben? Hast du Söhne in der Roten Armee, Vettern auf Formosa?
Zweifellos war der Mann in Brooklyn geboren, sagte er sich. Närrische Idee. Er ging den Weg zurück, drehte die Lichter ab, in sein Zimmer und stellte das Radio an, ein schönes Haydnkonzert.
Er meinte die Leichen tanzen zu hören und konnte sich vorstellen, wie sich die alte Frau in ihrer Nacktheit vor dem Orientalen verbeugte und die anderen aus ihren geöffneten Eisboxladen spähten, der stumme Harlekin stand in seinem bunten funkelnden Anzug da, lächelte und wiegte den Kopf im Takt der Musik.
Die Schellenmütze klingelte.
Nach einer Weile verließ er das Zimmer wieder und drehte alle Lichter an. Er versperrte die Tür zur Leichenhalle, stellte seinen Wecker auf sechs Uhr, damit er alle Lichter abdrehen und die Leichenhalle aufsperren konnte, bevor am nächsten Morgen der erste Angestellte eintraf, dann schlief er ein und träumte vom Tauchen.
In der nächsten Nacht ließ er die Lichter brennen und träumte nicht. In der darauffolgenden Nacht vergaß er die Leichenhalle zuzusperren, aber der Traum kam wieder. Schließlich lernte er klopfende Rohre, das Klingeln lockerer Fensterscheiben und andere durchaus erklärbare Geräusch zu unterscheiden, er löste sich von seinem Traum, und sein Schlummer wurde wieder tief und erholsam. Sein Dasein erschien ihm allmählich uninteressant. Zwei Monate, nachdem er Famulus geworden war und mit einer Kommilitonin vom Penn in ihrem Zimmer rang, amüsierte es ihn, als sie plötzlich innehielt und ihr Gesicht an seiner Brust barg.
»Du hast einen verdammt erotischen Geruch«, sagte sie.
»Du auch, Puppe«, sagte er zu ihr und meinte es ehrlich. Er unterließ es zu erwähnen, daß es bei ihm der schwache, unzerstörbare Geruch von Formaldehyd war.
Als er jetzt in Dr. Sacks Pathologielabor arbeitete, gewöhnte er sich wieder an den herben Geruch chemischer Schutzmittel, und schließlich träumte er nicht mehr, wenn er einschlief. Es kam niemand dicht genug an ihn heran, um die Essenz des Formaldehyds zu riechen. Er erwog, sich mit der kleinen blonden Lernschwester Anderson zu verabreden, aber irgendwie kam er nie dazu.
Er hatte versucht, Gaby anzurufen.
Susan Haskell, ihre Zimmergenossin, informierte ihn eisig und wiederholt, daß Gaby nicht in der Stadt und nicht zu erreichen war.
Schon gar nicht von Dr. Silverstone, hatte der Tonfall des Mädchens angedeutet.
Er hatte ihr fünf Tage nach ihrer Rückkehr aus Truro geschrieben.
Gaby, immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, daß ich ein verdammter Narr bin.
Wirst du bitte einen Anruf entgegennehmen oder diesen Brief beantworten?
Ich habe herausgefunden, daß es ganz anders ist mit jemandem, den man liebt.
Adam.
Aber es kam kein Antwortbrief, und sie blieb unerreichbar, wenn er anrief.
Der Winter zog sich dahin. Schnee fiel, wurde von dem großstädtischen Schmutz besudelt, fiel wieder und wurde wieder schmutzig, bis sich, wenn Schaufeln die Haufen durchschnitten, der Kreislauf an aufeinanderliegenden Schichten von Weiß und Grau ablesen ließ.
Eines Morgens erzählte Meomartino im Aufenthaltsraum der Chirurgen den kaffeetrinkenden Kollegen, er habe seinen Sohn nach Jordan Marsh mitgenommen, um ihm den Weihnachtsmann zu zeigen.
»Bist du ein Mann?« hatte Miguel gefragt. Die bärtige Gestalt hatte genickt.
»Ein wirklicher Mann?« Wieder ein Nicken.
»Hast einen Penis und alles?«
Die Chirurgen brüllten vor Lachen, und selbst Adam lächelte.
»Was hat der Weihnachtsmann dazu gesagt?« fragte Lew Chin.
»Er fand es gar nicht lustig«, sagte Meomartino.
Die Kaufleute Bostons nahmen die bevorstehende Weihnachtszeit gebührend zur Kenntnis. Die Warenhausfenster waren voll Stechpalmen und Lebenden Bildern, und an den Wänden der Krankenhauslifte tauchten grüne Plastikkränze auf. Schwestern summten
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