Die Klinik
ganzen Weg die lange Auffahrt hinunter, an den steinernen Wasserspeiern vorbei und auf der Überlandstraße. Als er zu lachen aufhörte, sah er, daß sie weinte. Einen Augenblick überlegte er, ob er das Lenkrad von ihr übernehmen sollte, damit sie ungestört weinen konnte, aber er war so müde, daß er möglicherweise hinter dem Steuer eingeschlafen wäre.
Sie gehörte zu den Menschen, die geräuschlos weinen; es ist viel schlimmer, solche Leute zu beobachten, als die dramatischen, dachte er.
»Hör zu«, sagte er schließlich mühsam, da seine Stimme schwer vor Müdigkeit war, als sei er betrunken. »Du hast kein Monopol auf gräßliche Eltern. Bei deinem Vater ist es der Sex, bei meinem die Flasche.«
Er erzählte ihr die wesentlichen Einzelheiten über Myron Silberstein, nüchtern, sachlich und ohne Erregung, und ließ nur sehr wenig aus: die Geschichte eines Wandermusikanten aus Dorchester, der zufällig in eine Anstellung im Orchesterraum des Davis-Theaters in Pittsburgh geraten war und eines Abends ein viel jüngeres und unerfahrenes kleines italienisches Mädchen kennenlernte.
»Ich bin überzeugt, er hat sie nur geheiratet, weil ich unterwegs war«, sagte er. »Er begann zu trinken, noch bevor ich mich an ihn erinnern konnte, und er hat noch nicht damit aufgehört.«
Als sie wieder auf der Route 128 waren und der Wagen sich in die Nacht hinein in die Richtung bohrte, aus der sie gekommen waren, berührte sie seinen Arm.
»Wir könnten der Beginn einer neuen Generation sein«, sagte sie.
Er nickte und lächelte. Dann schlief er ein.
Als er erwachte, überquerten sie soeben die Sagamore-Brücke.
»Wo zum Teufel sind wir?«
»Wir hatten unsere Freizeit schon arrangiert«, sagte sie.
»Es schien mir zu schade, einfach heimzufahren und die freien Tage zu verschwenden.«
»Aber wohin fahren wir?«
»An einen mir bekannten Ort.«
Er schwieg wieder und ließ sie fahren. Fünfundvierzig Minuten später waren sie in Truro, dem Wegweiser zufolge, der kurz aufleuchtete, als sie den Wagen von der Route 6 weg und auf eine Straße nach Cape Cod lenkte, zwei Wagenspuren aus weißem Sand, zwischen denen ein Streifen Riedgras wuchs. Sie fuhren eine kleine Anhöhe hinauf, und rechts, hoch über ihnen, tastete ein sich drehender Lichtfinger den schwarzen Himmel am Rand des Meeres ab. Plötzlich war der Lärm der Brandung da, als hätte ihn jemand mit einem Schalter angedreht.
Der Wagen rollte ganz langsam dahin. Er wußte nicht, was sie suchte, aber sie fand es schließlich und lenkte das Auto von der Straße weg. Er sah nichts als tintenschwarze Nacht, aber als sie ausstiegen, vermochte er die massigere Dunkelheit eines kleinen Hauses zu erkennen.
Ein sehr kleines Gebäude, ein Bauernhaus oder eine Hütte.
»Hast du einen Schlüssel?«
»Es gibt keinen Schlüssel«, sagte sie. »Es ist von innen verriegelt. Wir gehen durch den Geheimeingang.«
Sie führte ihn hinten herum, und kleine Föhren zerrten mit unsichtbaren Fingern an ihnen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, sah er bei näherer Untersuchung. »Zieh fest an den Brettern«, sagte sie.
Er tat es, und die Nägel glitten so leicht heraus, als wären sie es gewohnt. Sie schob das Fenster hoch und schlüpfte über das niedrige Fensterbrett hinein. »Gib auf deinen Kopf acht«, sagte sie.
Er schlug sich ihn trotzdem an, an der oberen Schlafkoje. Das Zimmer war nicht viel größer als ein Wandschrank und ließ seine Kammer im Krankenhaus im Vergleich dazu geräumig erscheinen. Die derben Holzkojen nahmen den meisten Platz ein, so daß man gerade knapp zur Tür durchgehen konnte. Die nackten Glühbirnen leuchteten auf, wenn man an Schnüren zog. Es waren noch zwei andere Kammern vorhanden, ganz ähnlich der, durch die sie eingedrungen waren; ein winziges Badezimmer mit Dusche, aber ohne Wanne; ein Mehrzweckraum mit Kücheneinrichtung, ein altersschwacher Schaukelstuhl und ein mottenzerfressenes Sofa voller Beulen und Gruben. Der Zimmerschmuck war klassischer Cape-Cod-Stil: Meeresmuscheln als Aschenbecher, ein Hummerkorb als Kaffeetisch, Seeigel und Seesterne auf dem Kaminsims, eine gebrauchsfertige Angelrute lehnte in einer Ecke, in einer anderen stand ein Gasherd, den sie fachmännisch in Gang setzte und mit Leichtigkeit anzündete.
Er stand schwankend da. »Was kann ich tun?« fragte er.
Sie sah ihn an und erkannte zum erstenmal, wie müde er war. »O Gott«, sagte sie. »Adam, es tut mir so leid.« Sie führte ihn zu einer unteren Koje,
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