Die Kluft: Roman (German Edition)
dass zunächst alle an ein übernatürliches Wirken glaubten.
Bevor dieser Wind an der Küste der Spalten oder auch nur im Tal der Jungen ankam, musste er vom einen Ende der Insel zum anderen fegen, wobei er ganze Wälder umlegte und das Meer zu rasender Zerstörung aufwühlte. Der Wind stöhnte und kreischte, er heulte und schrie – das war der Lärm, etwas, das sich niemand je hatte vorstellen können. Wind hatten alle ihr ganzes Leben lang gekannt, die lebhafte Gischt der Wellen, das Schwanken und Ächzen der Äste, aber etwas dergleichen? Einen solchen Lärm? Wir müssen uns heute, so viel später, immer noch fragen, was das war. Was ruft einen Wind hervor, der so allumfassend ist, dass er riesige Wälder umreißt und Felsen von den Bergen stürzt, Wolken aus giftigem Staub aufwirbelt und immer weiter wütet, stöhnt und brüllt, ohne das wir wüssten, wie lange? Ich glaube, wir alle haben schwere Stürme erlebt und vielleicht sogar gesehen, wie Bäume krachend umstürzten. Doch was in der Natur konnte einen Wind wie den Lärm hervorrufen, der jene Insel verschlang?
Die Jungen in ihren Hütten am Waldrand merkten bald, dass sie nichts tun konnten, wenn der Wind ihre wenig stabilen Unterstände herumwirbelte oder in den Fluss warf. Sie fanden in ihrem schönen Tal keinen Platz, an dem sie in Sicherheit waren. Oben auf dem Berg konnten die Adler nicht fliegen – die meisten kamen während der langen Tage und Nächte des Lärms ums Leben oder wurden verletzt. Die Jungen krochen den Berg hinauf, wobei sie sich möglichst dicht am Boden hielten, überstiegen den Gipfel und suchten sich an zertrümmerten Adlernestern und verletzten Vögeln vorbei einen Weg zu den Höhlen, wo sich die Mädchen über ihre Ankunft freuten und sie – so glauben wir – willkommen hießen. Alle waren außer sich, denn sie hatten Angst und wussten um ihre Hilflosigkeit. Dieser Wind war für sie keine Verkörperung von irgendetwas. Ich nehme nicht an, dass sie zu einem Windwesen beteten. Alle, einschließlich derer, die sich nur selten von der Küste entfernten, zogen sich so weit wie möglich in die Höhlen zurück, und alle weinten und zitterten. Gar nicht erwähnt werden die Alten Weiblichen, die Alten Weiblichen Wesen, und deswegen nehmen wir übereinstimmend an, dass sie ausgestorben waren und dass keine der Jüngeren den Status und die Geltung jener Alten erworben hatte. Die Höhlen über dem Meer waren belegt, voller Menschen, die alle Angst hatten und Hunger litten. Sie konnten weder in den Sturm hinausgehen, um Fische zu fangen, noch konnten sie Feuer machen. Der Lärm ging immer weiter, und es schien, als würde die ganze Insel in die Luft gehoben.
Was hat so einen Wind nur hervorrufen können? Von wo wehte er? Die Chroniken setzten nicht sofort wieder an, doch als sie es schließlich taten, hieß es, dass jedes Neugeborene kostbar war und bewacht wurde und dass man jedes Kind einer älteren Person zuteilte, die es beaufsichtigen und versorgen sollte. Weil beide Gemeinschaften so viel kleiner geworden waren, stellten die
Gedächtnisse
Vermutungen darüber an, dass nicht viel geschehen musste, um alle auszulöschen, die noch an der Küste oder im Tal lebten. Schon durch einen großen Sturm – oder Lärm – konnte es dazu kommen. »Wir sind so wenige« – das mussten die
Gedächtnisse
in ihren Aufzeichnungen bewahren, möglicherweise als Mahnung.
Seit der Zeit des Lärms, des großen Winds, herrschte in der Geschichtsschreibung von Küste und Tal ein neuer Ton: Der Wind hatte den Menschen die Angst eingepflanzt, die sie zuvor anscheinend gar nicht gekannt hatten. Sie fürchteten sich. Das plötzliche und überraschende Aufkommen des Lärms hatte sie alle verändert. Natürlich waren zuvor auch schlimme Dinge geschehen, jemand war umgekommen, ertrunken, die Anfänge der männlichen Wesen waren unglückselig gewesen, doch wann war es je zu einer Mordattacke von Seiten der Natur gekommen, die doch ihre Freundin war? »Was geschehen ist, kann wieder geschehen.« Der Lärm, der Wind hatte allen gezeigt, wie hilflos sie waren.
Die Jungen kehrten in ihr Tal zurück, sobald es möglich war. Den Aufzeichnungen nach konnten sie die Führungsrolle der Frauen und die Überwachung durch sie nicht ertragen. Außerdem fühlten sie sich missachtet. Als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht und alle seit Tagen – oder Wochen – nichts mehr gegessen hatten, krochen die Jungen auf dem Bauch zur Küste hinab, um Fische einzusammeln,
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