Die Knochenfrau
Nummer. Er ließ es sechsmal klingeln und wollte schon auflegen. Doch da wurde der Hörer abgenommen. Die Frau war außer Atem.
„Ja hallo, was ist denn?”
„Hallo, mein Name ist Lukas Kramer. Ich habe Ihre Telefonnummer von der Frau Schneider.”
„Lassen Sie mich erst mal zu Atem kommen. Sie haben mich gerade aus dem Keller hochgescheucht.”
Sie holte einige Male tief Luft, Lukas hörte es sehr deutlich. Er stellte sich eine dicke Frau um die Fünfzig vor. Eine Frau, die gerade unten im Keller ihre Finger in irgendwelche Marmeladengläser gesteckt hatte.
„So ... jetzt is besser. Waren Sie bei der Frau Schneider im Krankenhaus?”
„Ja, vor einigen Stunden.”
„Und wie geht es der Ärmsten?”
„Den Umständen entsprechend. Gesundheitlich wohl wieder besser. Aber natürlich war das sehr viel ... also das mit ihrem Mann und dem Herzinfarkt.”
„Ja ja, das will man sich gar nicht vorstellen. Also wenn man so daliegt und nichts machen kann. Das muss ja ganz furchtbar sein. Da will man gar nicht dran denken.”
„Ja”, sagte Lukas. Er wusste nicht so recht warum, aber diese Frau war ihm unsympathisch. Eine kurze Pause trat ein. Dann wieder sie:
„Ja jedenfalls, ich hab bei den Schneiders ab und zu geputzt ... das Meiste hat der Herr Schneider ja selbst gemacht, aber ab und zu ... also er hat ja selbst auch gesundheitliche Probleme gehabt und war nicht mehr der Jüngste. Und dann hab ich immer mal wieder ausgeholfen und äh-”
„Waren Sie Nachbarn, also Sie und die Schneiders?”, unterbrach Lukas die Frau.
„Nein, überhaupt nicht. Ich habe nur geputzt und äh ... ja, also ich habe den Zweitschlüssel von dem Haus und den sollen jetzt wohl Sie bekommen. Die Schneiders haben ja keine Verwandten gehabt und vielleicht geht das Haus ja auch jetzt direkt an Sie ... also als Erbe. Sie haben ja wohl früher ein sehr gutes Verhältnis zu den Schneiders gehabt ... obwohl es mich natürlich wundert, dass Sie nie zu Besuch waren. Oder waren Sie mal zu Besuch?”
Lukas hielt den Hörer einige Zentimeter von seinem Ohr weg. Kaum war sie wieder bei Atem, da sprach sie viel zu laut. Sie hatte den breiten, schwerfälligen Dialekt Rothenbachs. Eine echte Eingeborene.
„Und haben die Schneiders sonst noch irgendetwas gesagt?”
„Ja ähm ... nein, eigentlich nicht. Also ich soll Ihnen nur diesen Umschlag mit dem Schlüssel geben.”
„Okay”, sagte Lukas. Er kam sich vor, als schlittere er eine glatte Eisfläche hinunter. Und dort unten, am Ende dieser Fläche, da war irgendetwas, irgendetwas, dem er eigentlich aus dem Weg gehen sollte. Aber das war unmöglich. Er rutschte immer weiter. Er hatte Frau Schneider besucht und jetzt hatte er diese laute Frau am Telefon. Und die hatte einen Schlüssel für ihn. Und er wusste, dass er nach Rothenbach fahren würde.
„Hallo? Sind sie noch dran, junger Mann?”
„Ja, ich bin noch dran. Kann ich morgen Vormittag bei Ihnen vorbeikommen und den Schlüssel abholen? So gegen elf?”
Die Frau schien zu überlegen. Lukas hörte etwas, das wie Magenknurren klang. Scheinbar hatte sie ihre Finger nicht lange genug in die Marmeladengläser getaucht.
„Ja, um elf ist okay. Wenn es Ihnen später wird, dann rufen Sie aber bitte an. Meine Nummer haben Sie ja.”
„Okay, dann bis morgen um elf.”
„Gut. Bis dann.”
Mit diesen Worten legte sie auf. Lukas hatte noch ein paar Sekunden den Hörer am Ohr und hörte sich das Piepsen an. Dann legte auch er auf.
Nachdem Lukas seine Reisetasche gepackt hatte – nur das Übliche: Klamotten, Zahnbürste, Bücher, Laptop, Ladegerät fürs Telefon usw. – legte er sich auf die Couch und machte den Fernseher an. Es lief eine Folge der Simpsons, die er noch nicht kannte. Von der Handlung bekam er nichts mit, zu sehr war er in Gedanken. Dann, es war so gegen neun, schlief er bei laufendem Fernseher ein. Ihm fielen einfach die Augen zu. Er wunderte sich noch über diese bleierne Müdigkeit und versuchte, die Lider zu heben. Dann war er weg …
… und dann war er in Rothenbach. Alles sah ganz anders aus aber es war eindeutig Rothenbach. Lukas stieg in einem großen Bahnhof aus einem großen, blutroten Bahnwaggon (es gab überhaupt keinen richtigen Bahnhof in Rothenbach, nur eine kleine Haltestelle) und sah seinen Bruder. Sie begrüßten sich und sein Bruder sagte, sie müssten jetzt zu den Eltern, das Essen sei fertig. Also gingen sie die Straße entlang und plötzlich war der große, aufrecht gehende Ameisenbär bei
Weitere Kostenlose Bücher