Die Knochenfrau
ansprang und heißes Wasser kam, hielt wieder die Luft an und spülte den Rest der schwarzen Masse in den Ausguss. Er brauchte dazu fast eine Minute, das Zeug war zäh wie Honig und auch das viele Spülmittel, das er in die Schüssel und in das Spülbecken drückte, half wenig. Nachdem er die schwarze Masse losgeworden war, öffnete Lukas ein Fenster, verließ die Küche und zog die Tür zu. Der Gestank musste raus, es war wirklich widerlich. Er ging zu der Kommode und steckte die 700 Euro ein. Dann ging er raus und schloss die Tür ab. Er setzte sich in sein Auto und fuhr drei Kilometer bis zum nächsten Supermarkt – Vorräte besorgen.
*
Frau Pfeiffer stand am Küchenfenster und beobachtete das Geschehen. Gerade hatte sie ihre drei besten Freundinnen angerufen und ihnen erzählt, was sie erlebt hatte. Marion, die blöde Kuh, hatte ihr zuerst nicht geglaubt. Und warum zum Teufel ging ihr Mann nicht ans Telefon? Sie hatte schon dreimal versucht, ihn bei der Arbeit zu erreichen. Sie musste ihm doch erzählen, was sie gesehen hatte … Arbeit hin oder her. Endlich hatte auch sie mal etwas erlebt. Endlich ist mal was passiert, hier am Arsch der Welt . So dachte Frau Pfeiffer und im selben Moment schämte sie sich für diesen Gedanken. Der arme kleine Junge ... es war so furchtbar. Sie hatte ihn ja schon mehrmals gesehen mit dieser großen Schultasche, die sie vorhin der Polizei übergeben hatte. Das war wohl sein Nachhauseweg. Frau Pfeiffer erschrak über die Diskrepanz zwischen den Gefühlen, die sie hatte und denen, die sie glaubte, haben zu müssen. Es war ja wirklich furchtbar, traurig, grauenhaft. Ein totes Kind war ja sowieso das Allerschlimmste. Noch dazu ein ermordetes Kind. Wenn jemand mit achtzig Jahren im Bett starb, dann war das auch traurig. Aber ein ermordetes Kind ... das war doch etwas völlig anderes, das war unnatürlich. Und der Junge war ja dermaßen zugerichtet.
Eigentlich müsste ich einen Schock haben , dachte Frau Pfeiffer. Eigentlich müsste ich ganz aufgelöst sein, bei dem, was ich gesehen habe. Eigentlich müssten sich jetzt die Polizisten um mich kümmern oder ein Psychologe oder ein Sozialarbeiter.
Aber man hatte sich nicht besonders um sie gekümmert, man hatte sie befragt, ihre Daten aufgenommen und sie dann nach Hause geschickt. Sie solle sich bereithalten, man würde sich gleich bei ihr melden. Und so stand Frau Pfeiffer nun am Fenster und beobachtete die Polizisten, die in den Wald hinein und wieder hinaus liefen. Die Leiche des Jungen hatte man noch nicht geholt. Wahrscheinlich kommt erst noch die Spurensicherung . Und als dann tatsächlich eine Frau und zwei Männer in Zivilkleidung aus einem dunklen Mercedes stiegen, zwei glänzende Metallkoffer aus dem Kofferraum wuchteten und damit in den Wald liefen, da dachte Frau Pfeiffer, dass sie gerade ganz richtig gedacht hatte. Eindeutig Spurensicherung! So sah das auch im Fernsehen immer aus.
Zumindest müssten meine Hände zittern , dachte Frau Pfeiffer ... aber vielleicht kommt das ja erst später, vielleicht heute Nacht . Frau Pfeiffer beschloss, heute ausnahmsweise bei ihrem Mann zu schlafen, anstatt in dem kleinen aber netten Zimmer, in das sie vor acht Jahren vor seinem Schnarchen geflüchtet war. Er konnte nichts dagegen haben ... schließlich war das eine Ausnahmesituation. Sie hatte ja Schreckliches erlebt.
Auf einmal klingelte es an der Tür. Frau Pfeiffer erschrak, strich sich die Bluse glatt, schob die Frisur zurecht und ging hin. Eine junge Polizistin stand vor ihr, sie hatte sie überhaupt nicht kommen sehen.
„Guten Tag Frau Pfeiffer. Wir wollten mal nach Ihnen sehen. Wie geht es Ihnen?”
Na endlich kümmerte sich mal jemand um sie. Frau Pfeiffer musste ein Lächeln unterdrücken.
„Es geht, es geht. Dieser Anblick war natürlich schon sehr schlimm. So etwas stellt man sich ja nicht vor … also dass so etwas hier in Rothenbach passiert.”
„Wenn Sie möchten, dann bleib ich ein bisschen bei Ihnen.”
Das wollte Frau Pfeiffer dann auch nicht. Sie hatte noch Anrufe zu machen. Sie musste noch ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihren Kindern erzählen, was ihr passiert war ... und natürlich, was dem Jungen passiert war.
„Nein, nein, machen Sie nur Ihre Arbeit. Ich bin schon in Ordnung.”
„Okay ... ähm, eine Frage hätte ich noch. Sie meinten, dass Sie das Gefühl hatten, jemand sei hinter Ihnen. War das nur so ein Gefühl oder haben Sie etwas bemerkt ... also etwas gehört oder
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