Die Knochenfrau
andere verschwanden im Gras. Dies war kein heiliger Ort. Das war nur die verdammte Natur. Fressen und Gefressen werden, Werden und Vergehen, das alte, sinnlose Spiel.
Immer noch sah Lukas auf das Stück Eingeweide herab. Er überlegte, von welchem Wesen es stammen könnte. Kurz kam ihm der Gedanke an menschliche Überreste. Aber dafür war das Ding zu klein, nur etwa dreißig Zentimeter lang und anderthalb Zentimeter dick. Wahrscheinlich ein junges Reh, ein Fuchs oder ein großer Hase. Oder doch von einem Kind? Lukas überlegte, das Stück mitzunehmen und es der Polizei zu übergeben. Aber was sollte er denen erzählen? Und wenn es tatsächlich von einem Menschen war? Was dann? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und hatte tatsächlich Empfang. Er öffnete den Browser und suchte nach Bildern des menschlichen Darms. Nach einigen Minuten war er sich sicher, dass das, was hier vor ihm lag, vor sich hin stank und von hunderten kleiner Mäuler aufgefressen wurde, zu klein war, um von einem Menschen zu stammen. Auch die Farbe passte nicht so recht zu den Bildern, die er im Netz fand. Als Lukas gerade die Tastensperre gedrückt hatte, da klingelte es. Er nahm den Anruf entgegen und hielt sich das Ding ans Ohr.
„Hallo?”
Es kam keine Antwort. Erst hörte er überhaupt nichts, dann ein leises Atmen. Und dann das Weinen eines Kindes. Lukas nahm das Telefon vom Ohr und sah auf das Display. Die Nummer kam ihm bekannt vor. Schnell hielt er sich wieder das Telefon ans Ohr, hörte aber nichts mehr. Wer immer auch dran gewesen war, er hatte aufgelegt. Lukas machte einige Schritte vom Verwesungsdunst weg, atmete tief ein und sah sich noch einmal die Nummer an. Elf Sekunden, vor weniger als einer Minute … 01525 3393... Plötzlich war es Lukas, als sei die Temperatur auf einen Schlag um zehn Grad gesunken. Er kannte diese Zahlenfolge. Das war seine eigene Nummer … seine verdammte eigene Nummer. Er hörte ein Rascheln aus dem Blättermeer vor sich und war sich sicher, nicht allein zu sein. Er steckte sich das Handy in die Hosentasche, riss sich den Rucksack vom Rücken, zog mit einem Ruck den Reißverschluss auf, langte hinein und packte das große Küchenmesser der Schneiders. Mit dem Messer in der Rechten stand er ganz still in der Mitte der Lichtung, die Linke hatte er zur Faust geballt. Seine Augen wanderten über das Blättermeer. Nie hatte er sich so wach gefühlt. So fühlte es sich also an, wenn man bereit war, zu töten.
Zehn Minuten später verließ Lukas die Lichtung. Er hatte nichts Ungewöhnliches gesehen und nichts mehr gehört. Nichts war aus dem Gestrüpp gekommen, nichts hatte ihn angesprungen. Und auch das verdammte Telefon hatte nicht mehr geklingelt. Während er zurück zum Haus der Schneiders lief, hielt er die ganze Zeit den hölzernen Griff des Küchenmessers umklammert. Einige Male hieb er mit dem Messer auf die dicken Farnblätter ein, die ihm den Weg versperrten. Es brachte nicht viel und Lukas kam sich albern vor. Das Ding war keine Machete. Er überlegte, das Messer wieder in den Rucksack zu stecken, behielt es dann aber in der Hand, bis er aus dem Wald heraus war. Als er das Haus der Schneiders sah, da zog er noch einmal sein Telefon aus der Hosentasche Es war, wie er erwartet hatte: Da war kein Anruf gespeichert. Es hatte diesen Anruf überhaupt nicht gegeben. Alles nur in seinem Kopf.
*
Auf seinem Rückweg war Lukas an einem Baumstumpf vorbeigekommen, den er auf dem Hinweg nicht bemerkt hatte. Er stand etwa anderthalb Meter vom Weg entfernt und hatte eine ebene, glatte Schnittstelle. Wahrscheinlich war das der Ort, an den Herr Schneider jahrzehntelang sein Blutopfer brachte. Wahrscheinlich stellte er dort immer seine Schale hin.
Lukas aß eine Banane und ärgerte sich. Warum hatte er vorhin kein Foto von der Lichtung und dem Stück Darm gemacht? Wozu hatte er denn die Kamera dabei? Und wieso war er nicht dem Geräusch hinterher gegangen, das er gehört hatte? Vielleicht war sie es ja … dieses beschissene Vieh, das erst vor wenigen Stunden wieder getötet hatte. Und war dieses Stück Darm nicht vielleicht doch von dem Jungen? Nein, das konnte nicht sein. Das sah zu alt aus, das war schon halb verwest und so schnell kamen ja auch keine Maden. Oder etwa doch? Scheiße Nein! Mach dich nicht verrückt Lukas! Mach dich nicht verrückt!
Lukas warf die Bananenschale in den leeren Mülleimer, wusch sich die Hände in der Spüle und wollte gerade ins Wohnzimmer, als sein Telefon klingelte.
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