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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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Da gab es diese Jugendlichen, von denen er immer noch dachte, dass sie ihm den Lack zerkratzen (was nicht weiter schlimm gewesen wäre) oder die Reifen abstechen würden … und dann natürlich einen verzweifelten Vater, der möglicherweise immer noch glaubte, Lukas hätte seinen kleinen Jungen umgebracht. Das waren Feinde genug, kein Bedarf an neuen.
    Um kurz nach sechs ging Lukas noch einmal los, einfach weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte … und weil er außerdem hoffte, Yvonne zu treffen. Er hatte sich auf der Rothenbach-Karte eine Stelle zwischen dem Ort, an dem die Tochter der Schneiders getötet worden war, und dem Ort, an dem es den Jungen erwischt hatte, herausgesucht. Es war nicht weit, er lief zu Fuß. Er schaute in gepflegte und weniger gepflegte Vorgärten, sah Menschen, die hinter Gardinen auf Fernsehgeräte starrten und kam an einem massiven grauen Haus vorbei, vor dem er stehen blieb und sich bückte, um in ein Kellerfenster zu schauen. Lukas sah einen massigen Mann, der wie versteinert vor einer großen Modelleisenbahn-Landschaft saß und den Zügen zuschaute, es mussten dutzende sein. Als der Mann seinen Kopf Richtung Fenster drehte, da ging Lukas weiter, erreichte die halb zerfallene, aber immer noch eindrucksvolle Malzfabrik und suchte einen Pfad in den Wald.
    Als er keinen Pfad fand, da sagte Lukas sich „Scheiß drauf”, stapfte durch ein dichtes Gestrüpp aus Farnen und Brennnesseln, stieg einen kleinen, grasbedeckten Abhang hinunter und stand zwischen hohen, unten astfreien Tannenstämmen. Er suchte seine Hosenbeine nach Zecken ab, fand keine und sah sich um. Das hier war Nutzwald, eine aufgeräumte Holzplantage. Es lagen keine abgebrochenen Äste herum und die Stämme sahen alle gleich aus. Lukas lief über den weichen Waldboden, ging weiter hinein in den Wald und bemerkte nach etwa einer halben Stunde, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Um ihn herum nichts als hohe Stämme. Er blieb stehen und lauschte. Keine Geräusche mehr, nur der Wind, der viele Meter über ihm die Tannenwipfel bewegte. Aber egal, es war noch hell. Außerdem war er ja die ganze Zeit leicht bergauf gegangen, er musste nur bergab gehen und würde wieder ins Rothenbachtal kommen. Und um sich völlig zu beruhigen, holte Lukas sein Handy raus und sah sich auf Google Maps an, wo er gerade war. Auf der Karte war er ein kleiner blauer Punkt auf grüner Fläche. Aber nur drei Zentimeter entfernt war schon wieder die nächste Straße … kein Grund zur Panik also.
    Lukas stieg weiter nach oben und kam an einen breiten Waldweg, den man angelegt hatte, um Stämme abzutransportieren. Schwere Fahrzeuge hatten sich in den Boden gegraben, die Furchen waren fast zwanzig Zentimeter tief. Lukas überquerte den Weg und stieg einen steilen Abhang hinauf. Hier war der Nutzwald zu Ende, hier begann das Chaos. Heruntergefallene Äste und gebrochene Baumstämme erschwerten das Fortkommen, einige Male gab der Waldboden nach und Lukas hatte Angst, sich den Knöchel zu verstauchen. Schließlich kam er an ein undurchdringliches Gestrüpp aus toten, dornigen Ästen, das er umgehen musste. Und bei dieser Umgehung stieß er auf einen gewaltigen Ameisenhaufen. Das Ding war so hoch wie eine Waschmaschine und während Lukas dem Gewimmel zuschaute, krabbelten ihm die Viecher über die Stiefel und die Beine hoch. Schimpfend stapfte er vom Hügel weg, schob sich die Hosenbeine hoch und zerdrückte sechzehn Ameisen. Zwölf hatten ihn bereits gebissen, vier starben unschuldig. Eine siebzehnte Ameise überlebte vorerst, weil sie nicht den Weg hinauf zur Haut gefunden hatte. Sie lief unschlüssig auf Lukas' rechtem Wanderstiefel herum, wurde von ihm fortgetragen und starb schließlich einige Kilometer von ihrem Hügel entfernt, indem sie bis zur Erschöpfung im Kreis herumlief.
    Lukas wusste nichts von der ernsten Lage des kleinen Tiers. Er atmete kühle, harzige Luft und sah von einer Bergkuppe hinunter ins Tal. Er saß auf einer vermoderten, mit Flechten bedeckten Aussichtsbank, die vor Jahrzehnten eine Firma gestiftet hatte, deren Name auf dem kleinen Messingschild nicht mehr lesbar war. Nur noch das Fa. war zu erkennen und Lukas hatte keine Lust, das Schild freizukratzen. Vor ihm lag Rothenbach und irgendwo musste das Wesen sein, das er suchte.
    Die Allermeisten würden den Anblick, der sich Lukas bot, als erhebend beschreiben. Die Sonne ging unter und färbte die Baumwipfel. Bläulich-violette Nebelschwaden hingen über dem Tal. Aber Lukas

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