Die Knochenfrau
zumindest erinnere ich mich so. Ich war ja noch ein Kind, ich war ja sechs damals … und ich hab das nur kurz gesehen und … na ja.”
Als Daniel nichts hinzufügte, da sagte Lukas:
„Danke Daniel, das hilft mir vielleicht weiter. Ich bin dir wirklich dankbar.”
„Ich wünsch' dir alles Gute”, sagte Daniel. „Aber ich will nicht wissen, was du in Rothenbach treibst. Pass bitte auf dich auf.” Die letzten Worte klangen abgehackt und Daniel Kramer legte auf, ohne auf die Antwort seines älteren Bruders zu warten.
Lukas hatte noch einige Sekunden das Handy am Ohr, dann steckte er es weg und zündete sich eine weitere Zigarette an. Er saß da, schaute dem Verkehr nach und dachte über das nach, was Daniel ihm gesagt hatte. Dieses Drecksvieh war also nicht sehr groß und nicht sehr stark. Es hatte ihn damals nicht festhalten könne, den sechsjährigen Daniel … und es ging nur auf Kinder. Es konnte nur mit Kindern fertig werden. Lukas stieg aus seinem Auto und ging noch einmal in den Dönerladen. Der Mann hinter der Theke schaute ihn erstaunt an.
„Ja?”
„Ich muss nur kurz was in der Zeitung schauen.”
Lukas überflog den Artikel über den Tod des Jungen. Okay, der Junge war sieben, ein Jahr älter als Daniel damals. Aber trotzdem nur ein kleiner Junge. Und Anna, die Tochter der Schneiders, die war damals nur fünf Jahre alt. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Lukas' Gesicht aus, als er wieder in seinem Wagen saß. Das Ding machte Jagd auf kleine Kinder, nicht auf achtzig Kilo schwere Männer Mitte Dreißig. Und auch die beschissenen Geisterbahntricks würden bei ihm nicht wirken, er würde sich vor keinen fliegenden Spinnen mehr fürchten und auch keinem Ameisenbären hinterher rennen. In diesem Falle war Homo Sapiens der Jäger, nicht die Beute. Und er würde dieses Stück Dreck zur Strecke bringen, da war sich Lukas sicher … etwa eine halbe Minute lang. Dann fiel ihm wieder ein, wie groß die Wälder um Rothenbach waren und wie wahrscheinlich es war, darin etwas zu finden, das sich höchstwahrscheinlich nicht zeigen wollte … und das es wohl auch verstand, sich zu verstecken. Als ihn dieser Typ mit dem Gewehr bedroht hatte, da musste sie in der Nähe gewesen sein, diese verdammte dürre Frau. Er hatte sie nicht gesehen, der Typ mit dem Gewehr hatte sie nicht gesehen und auch Yvonne hatte sie wohl nicht gesehen. Wie auch, in diesem Meer von Bäumen? Lukas war so in Gedanken, dass er erschrak, als sein Handy vibrierte. Eine SMS von Daniel:
„Bitte Lukas, fahr zurück nach Freiburg. Das ist nicht deine Angelegenheit.”
Lukas tippte seine Antwort und steckte sein Handy weg.
„Ich pass auf mich auf, sag Mama und Papa nichts. Ich kann nicht brauchen, dass sie sich auch noch Sorgen machen.”
*
Lukas saß im Haus der Schneiders. Er saß an dem braunen, altersgemäß zerkratzten Wohnzimmertisch und hatte vor sich die Karte von Rothenbach ausgebreitet, die er seit Tagen in seinem Rucksack herumgetragen hatte. Mit einem halb vertrockneten Filzstift – er fand diese blöden Fineliner nicht mehr, die er gerade erst gekauft hatte – machte er drei dicke Kreuze: Dort, wo sein Bruder angegriffen worden war. Dort, wo die Tochter der Schneiders getötet worden war. Und dort, wo es vor drei Tagen den Siebenjährigen erwischt hatte. Dann machte er ein weiteres Kreuz an der Stelle, wo man damals Peter, seinen Schulfreund, aufgegriffen hatte … Peter, der nicht mehr gesprochen hatte und von dem er nie rausbekommen hatte, was mit ihm passiert war. Hinter Peters Kreuz machte Lukas ein großes Fragezeichen. An dieser Stelle, mitten auf der Hauptstraße, hatte man ihn gefunden … aber dort war es ja nicht passiert. Und dann fiel Lukas ein, dass Peter damals zehn Jahre alt gewesen war und das passte verdammt nochmal nicht ins Bild. Griff dieses Wesen also doch ältere Kinder an? War das Vieh stärker und gefährlicher als erhofft? Andererseits … Peter war als Kind klein und schmächtig, sogar sehr klein für sein Alter. Die anderen hatten ihn deshalb immer verspottet. Und wenn sie ihn mal wieder in einen der braunen Plastikmülleimer stecken wollten, die in den Klassenzimmern standen, dann musste Lukas – der für sein Alter eher kräftig war – ihn verteidigen. Mit dreien konnte er es aufnehmen, wenn sie nicht allzu motiviert waren. Bei vier Gegnern wurde es schwierig.
Lukas maß mit einem Geodreieck, das er in der kleinen Rumpelkammer gefunden hatte, in der auch das feuerwehrrote
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