Die Knochenfrau
sah nur eine gewaltige Menge Wald, ein verdammtes Meer aus Bäumen, in dem man jahrelang herumirren konnte, ohne zu finden, was immer man suchte. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich an den Abstieg. Es war steil, einige Male kam er ins Rutschen und musste sich am Grünzeug festhalten. Schließlich traf er auf einen Schotterweg, von dem er annahm, dass er hinab ins Tal führte. Er ging den Weg und kam kurz nach zehn in der Nähe seiner alten Schule heraus. Die Straßen waren leer, kein Ton war zu hören. Als gäbe es plötzlich keine anderen Menschen mehr.
Lukas spazierte zum Haus der Schneiders und setzte sich vor den Fernseher. Ihm taten die Knie weh, so lange Wanderungen war er nicht gewohnt und sowieso war dieses Bergauf und Bergab nicht gesund … sagte sich zumindest Lukas. Kurz vor zwölf machte er den Fernseher aus und saß noch etwa eine halbe Stunde im Halbdunkel des Wohnzimmers. Er hörte, sah und spürte nichts Ungewöhnliches. Er wartete, dass etwas passierte, dass sich dieses Vieh irgendetwas einfallen ließ. Aber als nichts geschehen wollte, da ging er nach oben und putzte sich die Zähne. Als er vor dem Badezimmerspiegel stand, da erwartete er, dass jeden Moment irgendetwas im Spiegel auftauchen würde, irgendetwas hinter ihm. Und als er durch den kleinen Flur Richtung Gästezimmer ging, da dachte er einen Augenblick, auf der Treppe einen Schatten gesehen zu haben. Lukas ging hin, entdeckte aber nichts. Es war völlig ruhig. „Na mach schon”, rief er die dunkle Treppe hinunter. „Denk dir mal was Nettes aus, du blödes Miststück.” Nichts passierte.
Lukas ging ins Gästezimmer, legte sich aufs Bett, schaltete die Nachttischlampe ein, legte sich mit angewinkelten Beinen auf den Rücken und roch nach einigen Minuten den schmorenden Staub auf der heißen Glühbirne.
Lukas überlegte, wie er dieses Wesen, das er suchte, aus der Reserve locken konnte und ihm kamen die bescheuertsten Ideen:
Ein Kind entführen und als Köder benutzen? … nein, natürlich nicht. Außerdem war ja erst ein Kind getötet worden und wenn solch ein Angriff wirklich nur alle zehn Jahre…
Oder einfach darauf warten, dass dieses Vieh wieder auf ihn selbst reagierte. Einfach das mit dem Blut weitermachen und vielleicht irgendwelche Videokameras am Haus anbringen … aber das konnte Monate dauern.
Oder Fallen auslegen, rund um das Haus und auf dem Pfad hinter dem Garten. Lukas dachte an zuschnappende, metallbezahnte Bärenfallen, wie er sie aus Filmen kannte. Aber auch das war natürlich Blödsinn … er konnte nicht einfach Fallen auslegen. Was wenn irgendein Wanderer in solch eine Falle tappte? Und wo bekam man solche Fallen? Bestimmt nicht im Baumarkt.
Vielleicht sollte er einfach nach Freiburg zurückfahren und in zwei Wochen wiederkommen, um das mit dem Blut…
Lukas kam einfach nicht weiter. Er drehte sich auf die Seite und ärgerte sich über das zu kurze Bett. Nach einigen Minuten trat er das Brett heraus, das das Fußende des Bettes abschloss. Es flog krachend gegen die Wand und hinterließ eine Kerbe in der Raufasertapete.
Jetzt war es besser. Lukas streckte sich aus und wackelte ein bisschen … das Bett stürzte nicht ein. Das Stück Holz, das jetzt auf dem Boden lag, hatte keine tragende Funktion gehabt. Er drehte sich auf den Bauch, packte sich das Kissen und schloss die Augen.
*
Lukas befand sich in einem großen Gebäudekomplex … eine Art Krankenhaus oder Forschungslabor. Nach stundenlangem Herumgeirre traf er eine Frau in einem weißen Kittel. Sie sah ein wenig aus wie Nadine, war aber nicht Nadine. Diese Frau bat ihn, ihr beim Einfangen des Affen behilflich zu sein und führte ihn in einen großen Raum, in dem tausende milchig-weiße Plastikkästen standen. Der Affe war in einem dieser Kästen, Lukas wusste auch in welchem. Die Dinger waren halb durchsichtig und das Tier war als dunkler Schemen zu erkennen. Aber immer wenn sich Lukas einem der Kästen näherte, sprang der Affe schreiend heraus, flog als diffuse Wolke aus schwarzem Haar, weißen Zähnen und gelber Haut durch die Luft und setzte sich in einen anderen Kasten. Lukas versuchte mehrere Tage lang, den Affen zu erwischen. Zwischen den Jagden, immer nach ungefähr zwanzig Versuchen, ging er in einen blau gestrichenen Raum, in dem er sich ausruhen konnte. Irgendwann wurde Lukas wütend und fragte die Frau in dem weißen Kittel, die immer nur unbeweglich an einem Ende des großen Raumes stand, warum sie ihm nicht helfe.
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