Die Knochenkammer
dass es Wochen dauern würde, bis wir unser Opfer identifiziert hätten. Ich dachte, dass eine natürliche Verwesung eingesetzt hätte, die noch dadurch beschleunigt worden war, dass die Frau in einem Sarkophag eingeschlossen war. Vielleicht würde nichts für eine DNAAnalyse übrig sein, oder Dr. K. würde eine mitochondriale DANN-Analyse ihrer Haare machen müssen, was viel länger dauert. Aber sie ist perfekt erhalten.«
»Du meinst, jemand hat absichtlich dafür gesorgt?«
»Nicht bewusst. Nicht indem er sie aufschnitt, so wie man es mit den Pharaonen machte. Die hier ist ein Naturphänomen wie die Heiligen. Erklären Sie es, Doc.«
»Sogar wir Ärzte lernen, dass die frühen Juden und Christen jahrtausendelang versucht haben, den menschlichen Leichnam vor der Verwesung zu schützen, indem sie ihn in Tücher wickelten, die sie mit Kräutern und Pflanzenrückständen wie Aloe und Myrrhe tränkten. Die Ägypter perfektionierten die Methode, die dann später von den Europäern kopiert wurde, alle inneren Organe zu entfernen, um zu verhindern, dass die natürlichen Gase die Verwesung verursachten.«
»Von wegen innere Organe entfernen.« Jetzt übernahm Chapman das Ruder. »An Cleos Leiche ist nicht eine Narbe, hab ich Recht, Doc?«
»Nicht eine einzige. Das war keine medizinische Konservierung. Der Mörder hätte sich nie träumen lassen, dass sein Opfer in diesem Zustand wieder auftaucht.«
»Da muss man doch an ein Wunder glauben. In der katholischen Kirche dachte man jahrhundertelang, dass die körperlichen Überreste von Heiligen Wunder vollbringen konnten. Man dachte, dass sich der Heilige Geist in ihnen einnistete und sie heiligte. Deshalb heilten sie die Kranken, machten Blinde sehend und brachten Krüppel wieder zum Laufen. Im Mittelalter fingen Kirchenbeamte an, die Leichen von Heiligen, Märtyrern und Nonnen Hunderte von Jahren nach deren Tod zu exhumieren. Die Heilige Zita, zum Beispiel; sie war schon immer eine meiner Lieblinge.«
»Nie von ihr gehört.«
»Ich nehm dich mal mit zu ihr. In die Toskana, nach Lucca. Sie liegt dort in einer kleinen Glasvitrine und sieht aus, als würde sie nur ein Nickerchen machen. Sie ist die Schutzheilige der Hausangestellten - deshalb mag sie meine alte Dame so sehr. Sie lebte im dreizehnten Jahrhundert nach Christus. Als die Weisen im Mittelalter beschlossen, Zita wegen all der Wunder, die man mit ihr in Verbindung brachte, wieder auszugraben, stellten sie erstaunt fest, dass ihr Körper völlig intakt war, ohne eine Spur der Verwesung.«
Ich hatte noch nie von diesem Phänomen gehört und sah Kestenbaum an, um zu sehen, ob Chapman bluffte. Der Pathologe nickte.
»Ebenso war es mit der Heiligen Bernadette in Frankreich. Sie starb 1879 und wurde dreißig Jahre später wieder ausgegraben.«
»Ja, aber die Kirchenmänner, die sie ausgruben, waren alles religiöse Leute, die nach Wundern gesucht haben.«
Kestenbaum korrigierte mich. »Bei der Ausgrabung waren Chirurgen als Zeugen mit dabei, außerdem der Bürgermeister des kleinen Dorfes und Leute, die nichts mit der Kirche zu tun hatten.«
Chapman fuhr fort: »Sie schraubten den Deckel des Holzsargs ab, und der Leichnam der Schwester war perfekt erhalten.«
»Das muss ja gerochen haben wie -«
»Keinerlei Geruch oder Verwesungsgestank. Das Einzige, was den Nonnen auffiel, die sie für das Begräbnis hergerichtet hatten, war ihre Blässe. Sie war bleicher geworden, aber Haut und Haare waren wie eh und je, ihre Nägel glänzten und ihre Hände hielten noch immer den verrosteten Rosenkranz umklammert.«
»Aber sicher war doch unter der Haut -«
»Wenn ich’s dir sage: Man hat das zwei oder drei Mal gemacht. Man hat sie wieder eingegraben, ausgegraben, eingegraben, ausgegraben. Es gibt viele Zeugen. Die Muskeln und Bänder waren alle in gutem Zustand.«
»Warum hat man das getan?«
»Unvergänglichkeit war einmal eine der Voraussetzungen für eine Heiligsprechung, bis manche von den Jungs anfingen zu bescheißen und es auf chirurgische Art und Weise erledigten. Wie bei der Heiligen Margarete von Cortona. Wie sich herausstellte, war sie nicht auf natürlichem Wege erhalten, sondern auf Grund einer kleinen medizinischen Intervention. Sie machten es auf die ägyptische Methode, dann legten sie sie wieder in den Sarg und gaben vor, dass es auf natürlichem Wege passiert sei. Aber Bernadette war ein echtes Phänomen. Als man sie das dritte Mal ausgrub, fing man an, Reliquien einzubehalten. Teile ihres Skeletts,
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