Die Knochenkammer
wirklich. Meine Hauptsorge galt ihrem körperlichen Zustand.«
Mercer setzte den Stift ab, und wir sahen Bellinger neugierig an. »Was meinen Sie damit?«
»Ab dem Zeitpunkt, als sie mir von der Vergewaltigung erzählt hatte, hatte ich ein wachsames Auge auf sie. Wenn ich wusste, dass sie bis spät abends arbeitete, schickte ich sie mit dem Auto nach Hause. Wenn mir auffiel, dass sie nichts aß, dann brachte ich ihr zum Mittagessen ein Sandwich mit. Im Herbst, spätestens im Oktober, fand ich, dass sie gar nicht gut aussah.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«
»Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen ist, Ms. Cooper, aber wir haben ziemlich strenge Vorschriften, was sexuelle Belästigung angeht. Als Vorgesetzter ist man dadurch in der Zwickmühle. >Sie sehen heute nicht sehr gut aus, Katrina. Mir scheint, Sie haben ein paar Pfund abgenommen. Dieses Funkeln, das Sie in den Augen hatten, als wir über den Ankauf eines ein paar Millionen teuren Wandteppichs aus Bordeaux sprachen, ist verschwunden.< Um Himmels willen. Da bekommt man nur Schwierigkeiten. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, und sie hat mir gesagt, dass mich das nichts angeht und dass ich mich da raushalten soll.«
»Haben Sie noch mit jemand anderem darüber gesprochen?«
»Sicher. Mit Pierre Thibodaux. Er ist der Boss. Ich habe es bei ihm abgeladen. Ich sagte ihm, dass eine unserer hoffnungsvollsten Nachwuchswissenschaftlerinnen meiner Ansicht nach ein Problem hatte und unsere Hilfe brauchte, damit sie bei uns blieb.«
»Was hat er getan?«
»Nichts. Gar nichts. Wissen Sie, was er geantwortet hat? Als ich ihm von der Vergewaltigung erzählte, sagte er mir, dass ich das Telefonat vergessen solle. Er wollte, dass ich alle Unterlagen zerstöre, aus denen hervorging, dass sie vergewaltigt worden war.«
»Was?«, fragte Chapman.
Ich flüsterte Mercer das Gleiche zu, das Bellinger laut aussprach: »Er hatte Angst vor einem Prozess. Alles, was ihm Sorgen machte, war die potenzielle Haftung des Museums. >Pierre<, sagte ich, >dieses Mädchen leidet. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, und jemand muss etwas unternehmen.< Er weigerte sich, sich mit der Sache zu befassen. Ihm geht es immer nur ums Geld. Er beharrte darauf, dass Katrina wahrscheinlich nur darauf abzielte, das Museum zu verklagen.«
»Kapier ich nicht«, sagte Mike und sah mich an.
»Natürlich tust du das. Eine Angestellte der Cloisters arbeitet spät, um einen Termin für ein Forschungsprojekt oder eine Ausstellung einzuhalten.« Bellinger nickte, während ich sprach. »Sie verlässt das Museum allein und wird auf dem Grundstück vergewaltigt. Niemand wird festgenommen oder des Verbrechens angeklagt. Das Opfer hat ein Trauma. Vielleicht wird sie sich eines Tages, nach einer teuren Therapie, besser fühlen. Vielleicht auch nicht. Das Museum stellt ihr eine halbe Million Dollar in Aussicht, damit sie den Mund hält, um die Touristen nicht zu verschrecken und die Kollegen nicht zu verunsichern.«
»Wusste Thibodaux, dass es sich bei der jungen Frau, von der Sie sprachen, um Katrina Grooten handelte? Ich meine, haben Sie ihren Namen erwähnt?« Mike erinnerte sich daran, dass Thibodaux behauptet hatte, sie nicht zu kennen, als er das Foto gesehen hatte.
Bellinger dachte eine Weile nach. »Ich bin mir nicht sicher. Pierre hatte sie ein paarmal getroffen. Aber das war bei Gruppenmeetings oder größeren gesellschaftlichen Anlässen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Meinung war, dass er sie kennen würde. Ehrlich gesagt sollte es keine Rolle gespielt haben, wer sie war, nachdem ich ihm den Ernst der Lage geschildert hatte.«
»Haben Sie es noch jemandem erzählt?«
»Ja. Ich versuchte es als Nächstes bei zwei Frauen. Ich dachte, als Frauen würden sie besonderes Verständnis für sie aufbringen.« Bellinger schüttelte den Kopf. »Eve Drexler, Thibodaux’ Assistentin, und Anna Friedrichs, eine der Kuratorinnen am Met. Sie kannten Katrina von den Planungstreffen für die große Ausstellung.«
»Ja, wir haben gestern mit beiden gesprochen. Wie haben sie reagiert?«
»Ich war so naiv zu denken, dass Eve irgendetwas tun würde, was Thibodaux nicht in den Kram passte. Sie hörte sich alles an und bat mich, sie auf dem Laufenden zu halten. Aber im Prinzip gab sie mir den Rat, mir keine Sorgen zu machen. Es sei ein >Frauenproblem<, und Katrina würde damit fertig werden.«
»Und Anna?«
»Sie war anders. Sie drängte mich, die Psychologin zu kontaktieren. Anna waren die
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