Die Knochenleserin
weil ein Medium mit im Spiel war. Er war nach Bonnies Verschwinden bei ihr gewesen und hatte miterlebt, was sie durchgemacht hatte. Er musste sie für verrückt halten, dass sie bereit war, sich noch einmal auf eine derartige Enttäuschung einzulassen. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Sie war mit derselben Haltung an den Fluss gegangen, die Joe an den Tag legte. Und was glaubte sie selbst mittlerweile? Sie wusste es einfach nicht.
Sie ging zum Telefon, um den Zimmerservice für Megan anzurufen.
Die Bestellung wurde gebracht, kurz bevor Megan aus dem Schlafzimmer kam. Sie trug ihre Reisetasche und ihren Arztkoffer und wirkte müde, aber gefasst.
»Sie sehen schon besser aus«, sagte Eve, als sie Megan eine Tasse Kaffee einschenkte. »Haben Sie Ihren Onkel angerufen?«
Sie nickte. »Er hat mir die Leviten gelesen. Er meinte, ich hätte ihn anrufen sollen, bevor ich mich auf so etwas einlasse.«
»Haben Sie ihm gesagt, dass Sie bewusstlos waren?«
»Nein, das habe ich ausgelassen. Phillip hätte sich ins nächste Flugzeug hierher gesetzt.« Sie nahm die Kaffeetasse und setzte sich aufs Sofa. »Ich habe ihm gesagt, dass es länger gedauert hat, als ich gehofft hatte.« Sie verzog das Gesicht. »Das stimmt auf jeden Fall.«
»Hat er schon mal miterlebt, wie Sie so etwas gemacht haben?«
»Nein, aber seine Frau war auch ein Zuhörer, bevor sie gestorben ist, und er weiß, wozu das führen kann.«
Eve runzelte die Stirn. »Wovon reden Sie?«
»Egal. Ich sehe schon, dass das alles schwer nachvollziehbar ist für Sie.« Sie rieb sich die Schläfe. »Auch für mich ist es schwer zu verstehen. Ich muss es einfach akzeptieren.«
»Wie können Sie es akzeptieren? Es hat Sie beinahe in Stücke gerissen.«
»Meistens kann ich es abblocken. Bobby Joe habe ich nicht abgeblockt. Ich habe ihn an mich herangelassen.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Und normalerweise laufe ich nicht herum und reiße mich um diese Art von Strafe. Ich habe mit Venable eine Abmachung getroffen.« Ihre Lippen zuckten. »Glauben Sie vielleicht, ich hätte die Medizin aufgegeben, um mich künftig an Tatorten herumzutreiben? Weit gefehlt. Das würde ich gar nicht aushalten.«
»Praktizieren Sie noch als Ärztin?«
Sie wandte den Blick ab. »Im Moment nicht. Ich muss ein paar Dinge für mich klären.«
»Welche denn?«
»Ich habe Ihnen doch erzählt, dass das für mich Neuland ist.« Sie nahm ihr Sandwich. »Noch bis vor wenigen Monaten hatte ich keinen Grund, so verbittert zu sein wie Sie, auch wenn ich diesen Dingen gegenüber mehr als skeptisch war. Aber dann geschahen einige Dinge, die all das geändert haben. Ich musste akzeptieren, dass ich entweder ein Zuhörer bin oder aber eine durchgeknallte Idiotin. Ich habe mich für Ersteres entschieden.«
»Verständlich.« Eve blickte in ihre Kaffeetasse. »Sehen Sie … Geister?«
»Himmel, nein.« Sie schwieg und musterte Eves Gesichtsausdruck. »Sie etwa?«
»Natürlich nicht.« Eve hob ihre Tasse an den Mund. »Ich dachte nur, Sie könnten vielleicht beides. Kennen Sie jemanden, der Geister sieht?«
»Ich habe nicht viel zu tun mit anderen Medien, und ich kenne keins, das Geister sieht.« Sie aß den letzten Rest ihres Sandwichs. »Ist das alles?«
Eve nickte. »Danke.«
»Aber Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob Sie mir glauben sollen, oder?«
Eve ließ sich einen Augenblick Zeit mit der Antwort, während sie überlegte, was genau die Wahrheit war. Megan war ihr gegenüber offen gewesen, also musste sie es im Gegenzug ebenfalls sein. »Was Sie getan haben, war sehr beeindruckend. Aber es übersteigt meinen Horizont. Ich weiß nicht, ob ich glauben soll, dass diese Echos zwar existieren, aber von den meisten Menschen nicht gehört werden können. Solche Gedanken verstören mich. Das Leben ist schon schwierig genug, da möchte ich nicht auch noch über nächtliche Poltergeister nachdenken.«
»Und doch haben Sie, wenn Sie Gesichter rekonstruieren, mit so etwas zu tun«, sagte Megan. »Ich habe einmal einen Artikel über Sie gelesen, in dem stand, dass die Ähnlichkeitsquote Ihrer Rekonstruktionen erstaunlich ist, unfassbar hoch. Ist das Instinkt? Oder etwas anderes?«
Es war merkwürdig, dass Megan gespürt hatte, wie sie sich fühlte, wenn sie an einem Schädel arbeitete. »Vielleicht ist es ein bisschen von beidem. Aber das lässt sich sicherlich über jede kreative Tätigkeit sagen, oder?«
»Nur dass Sie nichts erschaffen, sondern die Realität zurückholen.« Megan
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