Die Knochenleserin
schwieg einen Augenblick. »Ich erinnere mich noch daran, wie ich vor einigen Jahren zum ersten Mal von Ihnen gehört habe. Ich dachte damals, wie schwierig das alles sein muss. Ich bewundere Sie.« Sie stand auf. »Und nur aus diesem Grund sitze ich hier und versuche etwas zu erklären, das ich genauso verwirrend finde wie Sie. Aber jetzt werde ich nach unten gehen, mir ein Taxi nehmen und zum Flughafen fahren. Ich will nach Hause.«
Eve stand ebenfalls auf. »Ich habe ein Auto gemietet, ich kann Sie hinbringen.«
Megan schüttelte den Kopf. »Die Leute kennen Sie. Ich möchte nicht, dass mich irgendjemand mit Ihnen oder diesem Fall in Verbindung bringt. Venable hat mir zwar zugesichert, dass die Medien außen vor bleiben, aber ich möchte kein Risiko eingehen.«
»Montalvo sagte, der Sheriff hätte offiziell verlauten lassen, der Junge sei durch einen anonymen Hinweis gefunden worden.«
»Was wohl weniger damit zu tun hat, dass er sein Wort halten will, als vielmehr damit, dass er sich Peinlichkeiten ersparen will. Er war höflich, aber es hat ihm überhaupt nicht behagt, dass ein Medium zu dem Fall hinzugezogen wurde.« Sie streckte die Hand aus. »Danke, dass Sie sich so nett um mich gekümmert haben. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen konnte, dass der Scheißkerl ergriffen wird.«
Eve gab ihr die Hand. »Das hoffe ich auch. Ich glaube nicht, dass ein einfaches Dankeschön eine Entschädigung für das ist, was Sie durchgemacht haben. Ich werde es Sie wissen lassen, wenn wir ihn haben.«
»Tun Sie das.« Sie nahm ihre Reisetasche und ging zur Tür. »Auf Wiedersehen, und viel Glück.«
»Warten Sie noch einen Moment.«
Megan drehte sich zu ihr um.
»Sie haben mir die Hand gegeben. Unten am Fluss wollten Sie das nicht. Dann war es Ihnen unangenehm, als Montalvo Sie berührt hat. Später haben Sie zu mir gesagt: ›Fassen Sie mich nicht an. Nicht jetzt.‹« Sie runzelte die Stirn. »Warum?«
Megan öffnete die Tür. »Ich war ziemlich aufgewühlt. Und wenn ich so aufgewühlt bin, sind mir Berührungen unangenehm.«
»Sie sind Ärztin. Sie müssen Leute anfassen, selbst wenn Sie vielleicht einmal aufgebracht sind. Hat das irgendetwas damit zu tun, dass Sie Stimmen hören?«
»Nein, damit hat es nichts zu tun. Aber die Zeit der Fragen und Antworten ist vorbei, Eve.« Sie schloss die Tür hinter sich.
Sie hätte sie nicht drängen sollen, dachte Eve. Megan hatte mehr Fragen beantwortet, als sie wollte. Sie hatte das Recht, Dinge für sich zu behalten. Und dennoch hatte Eve einen merkwürdigen Drang verspürt, mehr zu erfahren.
Ja. Drang war das richtige Wort. Stärker als Neugier und intensiver als Faszination.
Nun gut, Megan wollte nicht mehr erzählen, und damit musste Eve sich abfinden. Sie musste Montalvo anrufen und in Erfahrung bringen, ob es gelungen war, das FBI wieder in den Fall mit einzubeziehen.
8
C assidy kommt morgen Vormittag zurück«, teilte Montalvo ihr mit. »Er wird toben, aber wenn es um den Mord an einem Kind geht, können sie sich nicht verweigern. Die Medien würden das ausschlachten. Verbrechen an Kindern erhitzen die Gemüter. Ich wette, er rückt mit einer ganzen Wagenladung von Agenten und Spurensuchern an, um die Geschichte möglichst schnell hinter sich zu bringen.«
»Das können wir nur hoffen.«
»Wie geht’s denn unserem Medium?«
»Schon wieder weg. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden.«
»Sie ist nicht gerade der Typ von Medium, mit dem Sie früher konfrontiert waren, stimmt’s?«
»Nicht im Entferntesten.«
»Es war ein ziemlich unheimliches Erlebnis. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte oder nicht. Als wir so tief graben mussten, um das Fass zu finden, dachte ich schon, sie hätte uns einen Bären aufgebunden. Aber es war da. Haben Sie mit Quinn geredet?«
»Ja, er hält sie für eine Schwindlerin.«
»Und er war stinksauer.«
»Ja, aber ich rede nicht mit Ihnen über Joe, Montalvo.«
»Okay, ich halte mich zurück.«
»Was werden Sie jetzt tun?«
»Wieder in den Wald gehen und versuchen, unseren Mann zu finden.«
»Das ist kein Mann, das ist ein Tier. Was er dem kleinen Jungen angetan hat …«
»Dann jage ich eben die Bestie. Aber ich muss Miguel aus dem Spiel heraushalten. Es wäre gut, wenn er etwas für Sie tun könnte, was ihn anderweitig beschäftigt.«
»Ich muss arbeiten und kann nicht den Babysitter für Miguel spielen.« Aber plötzlich fielen ihr wieder die bandagierten
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