Die Knochentänzerin
aufgehängt.«
»Und diesmal?«
»Das ist ein Ausländer.«
Ich kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nur eine dürre Gestalt erkennen, die mit angezogenen Beinen im Käfig hockte. »Was hat er getan?«
»Er hat dem
patriarcato
den angeblichen Mantel des San Marco verkauft, der in Wirklichkeit nichts anderes war als ein alter zerfressener Fetzen.«
William! Beinahe hätte ich es hinausgeschrien. Gerade noch hielt ich mir die Hand vor den Mund. Dann stammelte ich: »Wie … wie lange …?«
»Hundert Tage«, kam die Antwort.
Ich ließ den Diener stehen, bahnte mir grob einen Weg durch die Menge und stellte mich zu den Gaffern. Ich verstand nicht, was sie zum Käfig hinaufriefen, doch freundliche Worte waren es wohl kaum. Ich musste meine Ellbogen einsetzen, um zum Turm zu gelangen. Drohend ragte er in den blauen Himmel. Hoch über meinem Kopf baumelte das Gefängnis aus Gitterstäben am Galgen. Ich sah nur den Boden des Käfigs, den, der darinsaß, konnte ich nicht erkennen.
Zwei grimmige Wächter, bewehrt mit Brustpanzer, Helm und Spießen, standen vor dem Eingang. Als ich einen Schritt näher trat, kreuzten sie klirrend die Hellebarden und durchbohrten mich mit Blicken. Schwarze Augen, schwarze Bärte, Gesichter mit der Härte und Entschlossenheit von Felsgestein: An diesen Kämpfern kam man nur vorbei, wenn sie es wollten.
Zögernd trat ich den Rückzug an. Was sollte ich tun? Kein Zweifel bestand an der Tatsache, dass es tatsächlich William war, der dort oben im Käfig kauerte. Er hatte den Reliquienmantel verkauft und kein anderer. Hundert Tage! Bei Wind und Wetter! Bekam er überhaupt Wasser und Brot, oder ließen sie ihn dort oben einfach verhungern? Ich blieb stehen, drehte mich um und blinzelte erneut ins Licht. So unendlich hoch hing der Käfig zwischen Himmel und Erde. Selbst wenn es mir gelänge, mich irgendwie an den Wächtern vorbeizuschleichen, wie in drei Teufels Namen sollte ich ihn dann aus diesem Gefängnis befreien? Weder ihm noch mir hatte der Herr Flügel verliehen oder uns sonst wie mit der Gabe des Fliegens gesegnet.
Den meisten Schaulustigen war das Glotzen nun langweilig geworden. Sie hatten den Gefangenen verhöhnt und beschimpft, aber dort oben tat sich rein gar nichts, wofür es sich gelohnt hätte, noch länger zu gaffen. Da rollte plötzlich Kanonendonner über die Lagune. Ein Raunen ging durch die Menge, die sich in Bewegung setzte, als sei sie ein einziges Wesen. Wie in der starken Strömung eines Flusses wurde ich mitgezogen und alles kam erst wieder vor dem Lido zum Halten. Erneut krachten Kanonenschläge, Pulverwolken schwebten wie kunstvolle Gebilde über dem Wasser. Sieben stolze Schiffe lagen draußen. Nun erklang ein einzelner Schrei, der sich rasch in der Menge fortsetzte, bis er zu einem kollektiven Ruf wurde: »
Imperatore!
Der Kaiser kommt nach Venedig!«
Was interessierte mich der Kaiser? Würde er mir helfen, William aus seinem himmelhohen Gefängnis zu befreien? Wohl kaum. Überhaupt gab es besseren Umgang für mich als die Mächtigen dieser Welt. Meine Bekanntschaft mit dem Dogen von Venedig hatte nur an einen Ort geführt – geradewegs in ein finsteres Loch.
Ungleich dem venezianischen Volk, das mit Jubelrufen die wimpelgeschmückten Galeeren willkommen hieß, kehrte ich dem Schauspiel den Rücken zu. Beinahe leer lag der Markusplatz nun vor mir. Ungehindert erreichte ich jenen Teil, der, wie Faliero mir erklärt hatte, Piazzetta San Marco genannt wurde. Selbst die Spieltische lagen verlassen da. Ich blickte hoch zu den beiden Säulen mit dem geflügelten Löwen und Theodorus auf dem Drachen. Auch über Letzteren wusste der Doge trefflich zu dozieren – der Legende nach Bruder des Drachentöters Georg, als Märtyrer bei lebendigem Leib zerfleischt und verbrannt. Hatte Venedig aus diesem Grund beschlossen, die Säulen als Mahnmal für Hinrichtungen zu nutzen und den Galgen dazwischen zu spannen? Tatsächlich hing da auch heute ein Bedauernswerter, es sah aus, als wären seine Schultern von einem weißen Umhang umhüllt, doch es waren kreischende Möwen, die sich um sein Fleisch stritten. Ich schritt an der Markussäule vorbei, und obwohl mich vor dem Anblick graute, blickte ich über die Schulter zurück zum Galgen. Vor Entsetzen stieß ich einen Schrei aus.
»Cei!«
Kein Zweifel! Obwohl übel zugerichtet, erkannte ich ihn sofort. Dort oben im Wind baumelte niemand anderer als unser Fährmann, Drachenreiter, Geschichtenerzähler – er, dem die Flucht
Weitere Kostenlose Bücher