Die Knochentänzerin
Domhof überqueren. Ich war zutiefst beeindruckt. Der Saalbau des Bischofspalasts bestand aus drei Stockwerken und zog sich über eine beachtliche Länge hin. Das Dach erinnerte mich an einen Pferdesattel, gedeckt mit feuerroten Ziegeln. Die Fenster waren nicht mit Schweinsblasen verschlossen, jedes einzelne – dreimal ein Dutzend – spiegelte das gleißende Licht der Morgensonne in teurem Glas. Wir liefen über bereits zu dieser frühen Morgenstunde sauber gefegte Pflastersteine.
»Erzbischof Wilhelm zu Köln muss Gutes von uns gehört haben«, frohlockte William, der sich in glänzender Laune befand. Im Gegensatz zu mir. Das Nonnengewand war klamm und weckte Erinnerungen an eine düstere Zeit aus nie endendem Regen, monotonen Psalmengesängen und stumpfsinniger Arbeit auf einem Eiland unter sturmgepeitschtem, wolkenverhangenem Himmel. Ich schob den Schleier zurück und hob den Kopf. Der Himmel über der Bischofsresidenz erstrahlte in makellosem Blau, Tauben gurrten über den Dächern des Palais, und trotzdem misstraute ich den friedvollen Vorzeichen.
»Wie kommst du darauf?«, knurrte ich. Nur mit Mühe war es mir am Vorabend gelungen, William meine Rolle als Äbtissin auszureden. Erst spät hatte er eingesehen, dass weder das Gewand noch mein Alter einer solchen Rolle auch nur annähernd gerecht werden konnten. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich eine einfache Nonne war: Cailun, die irische Klosterschwester, Gesandte der Äbtissin von Clonmacnoise, mit dem Auftrag, dem ehrwürdigen Erzbischof zu Köln eine wertvolle Fingerreliquie zu überbringen.
»Wenn er uns so früh am Morgen schon empfängt, ist das ein gutes Zeichen«, erwiderte William wohlgelaunt. Als er anfing, ein Liedchen zu pfeifen, rammte ich ihm den Ellbogen in die Seite.
»Ich habe ein schlechtes Gefühl.« Seit der Nacht plagten mich düstere Vorahnungen. Aus den Augenwinkeln musterte ich den gepflasterten Platz, der in unheilvoller Leere vor uns lag.
»Dafür ist meines umso besser«, erwiderte William und trat lächelnd auf die rot-weiß gekleideten erzbischöflichen Wachen zu. »Guten Morgen, ihr edlen Wächter«, flötete er auf Latein. »Uns sei der Wunsch gestattet, dass ihr uns zu Ihrer Eminenz Erzbischof Wilhelm zu Köln geleitet, der unseren bescheidenen Besuch erwartet.«
Die Wachen kreuzten die Spieße vor Williams Brust und redeten finster blickend auf ihn ein.
Rothaarige Hexe
hörte ich aus den harten Lauten nicht heraus, mein Feuerhaar hatte ich züchtig unter der Nonnenhaube verborgen.
William nickte ernst, nahm mir das Reliquienkästchen aus der Hand, öffnete es und hielt es den Wachen unter die Nase. Dazu redete er in gleicher fremder Zunge. Zuvor hatte ich mich bereits über sein Latein gewundert. Aber wie kam es, dass er auch noch Deutsch sprach? Es blieb mir keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, schon hoben sich die Piken, einer der beiden Wächter öffnete das Tor, und der andere führte uns in das bischöfliche Palais.
Erzbischof Wilhelm von Genepp empfing uns in einem prachtvollen Saal. Um diesen zu erreichen, mussten wir eine Marmortreppe hochsteigen, einem dunklen Gang folgen, in dem unsere Schritte hallten, weitere Stufen erklimmen, um schließlich an eine hohe, zweiflügelige Tür zu gelangen, deren Schnitzwerk – wie ich nach geraumer Wartezeit erkennen konnte – Adam und Eva unter dem Baum der Erkenntnis darstellte. Eine hölzerne Schlange wand sich um einen Ast, und Eva war im Begriff, Adam den Apfel zu reichen. Ich fühlte mich an ein Zwiegespräch mit Äbtissin Matilda erinnert, das mir zwei Nächte im Klosterverlies einbrachte. Ich hatte mir die Bosheit und Blasphemie erlaubt, die Heilige Schrift in dieser Hinsicht zu hinterfragen. War denn wirklich die Frau die allein Schuldige? Schließlich war es Adams freier Wille, den Apfel anzunehmen. Wenn Männer so stark waren, wie behauptet wurde, warum hatte er nicht einfach abgelehnt? Auch empfand ich es als unfair, aus Evas Namen das Wort
evil,
also
böse,
abzuleiten. Da war es noch das kleinere Übel, dass
Eve
auch
Abend
bedeutete, also das Ende von Tag und Licht. Überhaupt – so hatte ich mit dem jugendlichen Ungestüm meiner Gedanken argumentiert – sei die Vertreibung aus dem Paradies nur eine Parabel. Nichts anderes sollte damit erzählt werden, als dass der Mensch, wenn er erwachsen wird, die Unschuld des Kindes verliert und endlich erkennt, dass die Welt kein Hort des Glücks ist, sondern ein schlimmer, trauriger Ort voller Not,
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