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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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unbemerkt. Doch genau wie ich, glaubte William dem Bettler kein Wort und drohte: »Wenn du uns auf den Arm nehmen willst, wird es dir schlecht ergehen.«
    Dem konnte ich nur zustimmen. »Mit Hoffnungen macht man keine Späße.«
    »Ich meine es ernst. Ich erkläre es euch später. Zuerst will ich meine Geschichte erzählen – die hat nämlich etwas mit eurer möglichen Rettung zu tun. Deshalb: immer der Reihe nach.«
    »Deine Geschichte, mit unserer Rettung?«, brummte William wenig überzeugt. »Da bin ich aber gespannt.«
    »Das kannst du wohl sein.« Das Stroh, auf dem Hans hockte, raschelte. Er räusperte sich umständlich: »Ich werde euch jetzt also erzählen, wie man zum König der Bettler wird.« Hans von und zu Aposteln nickte in der Dunkelheit bestimmt gewichtig mit dem Kopf. »Im Prinzip ist es nämlich ganz einfach: Man wird es, indem man beweist, dass die Erde eine Kugel ist.«
    »Aha.« William klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, damit er glaubte, wir nähmen ihn ernst. Währenddessen senkte sich die Dunkelheit über unseren Kerker.
    »Man mag es bezweifeln, wenn man mich so sieht – aber eigentlich stamme ich aus einer wohlhabenden Familie. Allerdings war mir nicht das Glück beschieden, der Erstgeborene zu sein – nicht einmal der Dritt- oder Viertgeborene. Ich war somit zu keinem Erbe berechtigt, also taten meine Eltern das Naheliegende: Sie gaben mich den Mönchen ins Kloster. Ich war das sogenannte Kind für Gott.«
    »Ich bin auch im Kloster aufgewachsen«, rief ich dazwischen. »Bis vor kurzem lebte ich in einem Nonnenkonvent auf einer Insel im Meer.«
    Hans lächelte nachsichtig. »Es ist klug, immer standhaft bei der ersten Lüge zu bleiben – egal, wem gegenüber.«
    »Ich lüge nicht!«, rief ich entrüstet.
    »Ich auch nicht«, erwiderte Hans. Mir war, als sähe ich, trotz Dunkelheit, ein verschmitztes Grinsen auf seinem Gesicht. »Wie gesagt«, fuhr er jedoch ernst fort, »man steckte mich also in ein Kloster – in welches spielt keine Rolle –, fünf Lenze zählte ich gerade. So ein Klosterleben ist nicht das schlechteste, nein ganz gewiss nicht. Es gibt Essen und Trinken zur Genüge, und ihr wisst ja, wie erfinderisch Mönche sogar während der Fastenzeit sind, gilt es, den Leib zu nähren – Biber, obwohl aus Fleisch, werden gegessen, weil sie wie Fische im Wasser schwimmen, und anderes Fleisch versteckt man in einem Teig, damit der Herr es nicht sieht. Aber nicht nur für leibliche Nahrung ist reichlich gesorgt, auch der Geist wird mit vielfältigen Leckerbissen verwöhnt. Ich lernte Lesen und Schreiben, Latein und Mathematik. Ich war ein guter Schüler, eifrig, wissensdurstig – und Glück hatte ich noch dazu. Mein Lehrer, ein Bruder mit dem Namen Gallus, was, wie ihr wisst, Hahn bedeutet, und wie ein solcher sah er tatsächlich aus, mit einem stehenden Haarkranz wie Federn um die Tonsur und einem Nicken, mit dem er aussah wie ein Körner pickendes Huhn – was wollte ich sagen – ach ja, dieser Mönch, Gallus, der erkannte meine besonderen Talente: nämlich die Philosophie und die Astronomie.«
    »Du, ein Philosoph?«, lachte William.
    »Gewiss«, erwiderte Hans ernst. »Eine Kostprobe gefällig? Passt auf:
Nosce te ipsum
– erkenne dich selbst –, so steht es am Eingang des Orakels von Delphi geschrieben. Oder wie wär’s mit Heraklit und seinem zentralen Begriff der Logik, der besagt:
pantha rei
, alles fließt. Oder auch: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Dann Platon, der Schüler Sokrates’, der erkannte, ohne Kenntnis der Ideen, die die Wahrheit hinter den Dingen darstellen, sind wir wie Menschen, die in einer Höhle sitzen, nie die Sonne gesehen haben und unsere Schatten für das echte, das wahre Leben halten. Platon nahm natürlich an, dass alle Ideen selbständig in einer höheren Welt existieren …«
    »Natürlich. Aber warte«, unterbrach William ihn, »was soll das heißen, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen? Jeden Morgen, wenn gerade ein Fluss da ist, bade ich darin, und das ist dann insgesamt bestimmt mehr als zweimal!«
    »Er meint es anders«, schaltete ich mich ein, »du steigst nicht in ein und dasselbe Wasser, denn die Dreckbrühe, die dein Bad im Fluss hinterlässt, ist am nächsten Morgen längst nicht mehr da.«
    »Der Fluss ist nur ein bildhafter Vergleich.« Hans schien sich in seiner neuen Rolle als Kerkerphilosoph zu gefallen. »Aristoteles widerspricht übrigens Platons Gedanken in mancher Hinsicht.

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