Die Knochentänzerin
Doch da dieser sein Lehrer war, erklärte er, er empfinde zwar Freundschaft für ihn, für die Wahrheit aber noch mehr. Platon sah die Ideen in einer höheren Welt wohnhaft, für Aristoteles lagen sie in den Dingen selbst – könnt ihr mir folgen? – er ersah es also als wichtig, die erfahrbaren Wirklichkeiten von Natur und Menschen zu erforschen.«
»Du scheinst über großartiges Wissen zu verfügen«, lobte William ohne besondere Begeisterung. »Kannst du mir auch etwas über den Verbleib der Knochen der elftausend Jungfrauen erzählen, die hier früher angeblich bei Köln vergraben lagen?«
»Die Knochen haben mit meiner Geschichte nichts zu tun. Wohl aber die Astronomie. Also unterbrich mich nicht dauernd, sondern hör mir gut zu. Also: Während tagsüber die anderen Mönche beteten und arbeiteten, verbrachte ich die meiste Zeit im philosophischen Diskurs mit meinem Lehrmeister. Bald, schon im Alter von zwölf Jahren, war ich ihm ebenbürtig, wenn nicht überlegen. In den klaren Nächten jedoch kletterten wir auf den Kirchturm und studierten die Bewegungen von Mond und Sternen. Sehr bald erkannte ich, dass die alten Überbringungen nicht stimmen konnten.«
»Was stimmt nicht? Lehrt man nicht in den Klöstern, dass Gott unser Herr unsere Welt als Mittelpunkt erschaffen hat und die Gestirne von ihm als Zierde ans Firmament gehängt wurden?«
Hans seufzte hörbar ob dieser erneuten Unterbrechung. »Genau das meine ich. Die alten Lehren
müssen
überholt sein. Selbst wenn Gallus, mein Meister, ein Dozent dieses verstaubten Weltbilds gewesen wäre, ich hätte ihm bestimmt nicht geglaubt.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht sein kann. Ich stellte Berechnungen auf, führte akribisch Buch darüber, verglich alles über die Jahre hinweg. So seltsam es klingen mag – der Weg zu den Sternen führt über die Mathematik. Jeder Stern hat seine eigene Bahn, die sich im Verhältnis zu den anderen Gestirnen ständig verändert, abhängig von Stunde, Jahreszeit und anderen Dingen. Noch viel klarer gestaltet sich das alles, betrachtet man Erde, Sonne und Mond. Doch lasst mich sagen – am Ende kehrt alles wieder zurück zur Philosophie. Ich bin mir zweierlei sicher.«
Der Bettlerkönig legte eine kunstvolle Pause ein, bestimmt, um uns zu verdeutlichen, wie dramatisch das sein würde, was er gleich verkündete. Die kurze Stille wirkte im dunklen Kerker unheimlich.
»Wessen bist du dir sicher?«, fragte ich zaghaft.
»Erstens: Eines Tages wird ein Mensch mit Hilfe von Mathematik und Philosophie das Geheimnis der Schöpfung lüften.«
»Das ist Ketzerei!« Für Williams Verhältnisse war dieser Einwand ungewöhnlich scharf.
»Ich weiß.« Hans wiederum klang müde. »Ich sage es trotzdem. Zweitens – und auch das steht für mich fest: Dieser Tag der Erkenntnis ist gleichzeitig das Ende der Welt.«
Das folgende Schweigen war diesmal noch drückender. Hans’ Kundgabe schien wie ein Fluch in der Dunkelheit über uns zu schweben. Die unheilvolle Stille wurde zuerst durch Williams Hüsteln unterbrochen und dann durch seine ungeduldige Frage: »War’s das jetzt? Bist du wegen dieser Weisheit zum Bettlerkönig geworden? Kannst du mir also jetzt vielleicht Auskunft über die elftausend Jungfrauen erteilen?«
Doch Hans schien nicht gewillt, über einen Knochenhaufen Auskunft zu geben, solange er nicht seine Geschichte erzählt hatte, womöglich bekam er dazu nicht oft genug Gelegenheit. Er ließ Williams Frage unbeantwortet, knurrte etwas Unverständliches und fuhr dann fort: »Bald erkannte Gallus, mein Lehrmeister, dass er mir nichts mehr beibringen konnte, was ich nicht schon wusste. Er besprach sich mit dem Prior des Klosters, und sie kamen zu dem Schluss, es sei das Beste, mich zum Studium nach Prag zu schicken.«
»Prag!«, rief William begeistert dazwischen, »Erzbischof Wilhelm zu Köln behauptet, ein Teil der Knochen der elftausend Jungfrauen …«
»Wirst du mich wohl ausreden lassen, du ungehobelter Kerl!«, rief Hans, nun seinerseits ungehalten. »Wie soll ein Mensch ordentlich erzählen, wenn ein anderer ihm dauernd dazwischenfährt? Also. Bald brach ich nach Prag auf, das, wie ihr wisst, die Hauptstadt von Böhmen ist.«
»Du sprichst auch Böhmisch?«
»Damals noch nicht.«
»Wie konntest du dort studieren, ohne die Sprache zu kennen?«
Wieder seufzte Hans schwer und schien nun einen Diskurs mit der Dunkelheit zu führen: »Es ist nicht zu glauben. Nicht nur, dass dieser Mensch die Unhöflichkeit
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