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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz-Josef Körner
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Eines Tages erhielt ich von meinem Scholaren der Philosophie einen Rat. Er sagte, der Geist benötigt zum Denken eine in sich gekehrte Ruhe. Um diese zu erlangen, empfahl er mir ein Pendel. Ich sollte es irgendwo aufhängen, in Schwung versetzen und nichts weiter tun, als der hin und her schwingenden Schnur zuzusehen. Das tat ich. Stundenlang. Und plötzlich – fiel mir etwas auf.«
    »Was?« Ich beugte mich noch weiter vor. Kaum sah ich noch Hans’ Schatten.
    »Das Gewicht pendelte dicht über dem Boden. Zuerst traute ich meinen Augen nicht. Ich dachte, es müsse ein Irrtum sein. Doch je genauer ich hinsah und je länger, desto klarer wurde es mir.«
    »Was denn?«, fragte ich erneut.
    »Das Pendel veränderte im Lauf der Zeit seine Richtung.«
    »Ein Windhauch, bestimmt?«, schlug ich vor. »Oder etwas anderes?«
    »Genau das war es. Etwas anderes. Aber weder ein Windhauch konnte in den abgeschlossenen Kellerraum gelangen, noch gab es andere Einflüsse, die den Lauf des Pendels hätten verändern können.«
    »Also eine Sinnestäuschung?«
    »Das dachte ich zunächst auch. Wenn man so lange auf einen Punkt starrt, ist es durchaus möglich, dass einem die Augen einen Streich spielen. Also wollte ich sichergehen. Ich besorgte mir eine längere Schnur und besagtes spitzes Blei. Heimlich verschaffte ich mir Zutritt zu einem hohen Kirchturm. Ich band die Schnur an den Glockenbalken und ebnete unten den Sandboden. Dann versetzte ich das Pendel in Schwung und ließ das Blei seine Bahn in den Sand malen. Es gab mit der Zeit ein hübsches Bild: Das Muster zeigte mir gewissermaßen ein Abbild des Universums. Denn es konnte nur einen Grund dafür geben, dass das Pendel seine Bahn verließ, ohne dass eine äußere Kraft darauf einwirkte.«
    Vor Erstaunen hob ich die Hand vor den Mund, als ich erkannte, worauf Hans hinauswollte. Nun flüsterte auch ich: »Nicht das Pendel änderte seine Richtung, sondern der Boden.«
    »Kluges Kind«, lobte Hans.
    William hingegen war anderer Meinung. Seine Ungeduld – er wollte endlich etwas über die Knochen der elftausend Jungfrauen erfahren – war unüberhörbar. »Was redet ihr da für wirres Zeug. Pendel, ein sich bewegender Boden. Du warst bloß besoffen, gib es zu.«
    »Ganz und gar nicht. Allenfalls betrunken vor Erkenntnis. Nämlich der, dass ich einen eindeutigen Beweis vor Augen hatte: Die Erde ist nicht fest. Sie bewegt sich.«
    Ich hörte, wie William mit dem Fuß stampfte. »Blödsinn. Hier. Sie ist fest …«
    »Wie ging es weiter?«, unterbrach ich William ungeduldig. »Was geschah dann?«
    »Ich zeigte den Versuch meinem Lehrer. Er erschrak furchtbar, konnte sich aber der Logik des Beweises nicht entziehen. Nächtelang diskutierten wir, was zu tun sei. Er riet mir, die Sache für mich zu behalten, er selbst würde schweigen wie ein Grab. Es sei bei weitem mehr als ketzerisch, die Geschichte der Schöpfung, so wie sie überliefert ist, in Frage zu stellen. Doch ich war jung, rebellisch und unbedarft – und der Überzeugung, die Welt habe das Recht, mein neu erworbenes Wissen zu teilen. Mein Lehrer war entsetzt, als er erfuhr, dass ich unter keinen Umständen schweigen würde. Es sei mein Todesurteil, erklärte er mir eindringlich. Doch ich hörte nicht auf seinen Rat und posaunte mein neues Wissen in die Welt hinaus.«
    »Und weiter?«
    »Ich hatte sogar noch Glück. Der Papst schickte zunächst keinen Inquisitor, der mich folterte und verbrannte. Drei päpstliche Gesandte reisten an. Sie folgten mir in den Kirchturm und betrachteten schweigend mein Experiment. Ebenso schweigend rissen sie dann die Schnur herunter, verwischten die Spuren des Pendels im Sand und sagten mir, was zu tun sei.«
    »Was?«, fragte ich zum dritten Mal.
    »Sie erklärten mir, weder mein Pendel noch meine daraus gezogenen Schlüsse hätten je existiert. Sie fragten mich, ob ich das verstanden hätte. Als ich den Kopf schüttelte, wiederholten sie alles und schlossen dann mit einer eindeutigen Drohung. Ich würde als Ketzer verbrannt werden, sollte ich auch nur ein Wort meiner Behauptung verkünden.«
    »Bist du ihrem Rat gefolgt?«
    »Nein. Ich stellte mich auf den Hauptplatz vor der Universität, um allen meine Weisheit zu erklären. Da geschah etwas Seltsames. Stellt euch vor, als ich meine Rede begann, füllten beinahe hundert Menschen den Platz. Doch dann verschwand einer nach dem anderen wie auf ein geheimes Zeichen. Als ich schließlich nur noch alleine dastand, sah ich die Häscher kommen.

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