Die Knochentänzerin
Ich will nicht mehr. Ich bin bereit, die Schuld auf mich zu nehmen.«
»Du hast doch keine Schuld auf dich geladen! Wenn es so ist, wie du sagst, ist es die Wahrheit!«
»Mag schon sein. Doch das ist nicht das Entscheidende.« Hans sprach mit gesenktem Kopf und leiser Stimme.
»Was ist es dann?«
»Das Entscheidende ist der Respekt. Vor Gottes Willen und seiner Schöpfung.«
William spuckte einen Knorpel vor sich ins Stroh. »Erklär mir bitte, worin deine Respektlosigkeit besteht. Ist eine Lüge respektvoller als die Wahrheit?«
»Es geht nicht um Lüge oder Wahrheit.«
»Worum dann?«
»Ich habe eine Grenze überschritten, die man als Mensch nicht überschreiten darf. Gottes Gesetze dienen unserem eigenen Schutz. Eines dieser Gesetze besagt, wir sollen nicht hinter seine Geheimnisse blicken. Das hat uns die Vertreibung aus dem Paradies eindringlich gezeigt! Adam und Eva haben mit ihrer Sünde Unheil über die ganze Menschheit gebracht. Sie wollten mehr wissen, als Gott ihnen zugestand. Stellt euch vor, ein jeder wüsste um Gottes Wege und Pläne.«
Wir schwiegen, doch währenddessen suchte ich nach Worten. Hans redete wie Äbtissin Matilda, wenn sie über Gehorsam und die Allmacht des Herrn sprach. Schon immer hatte diese Art der Ergebenheit ins eigene Schicksal meinen Widerspruch angestachelt. Wie konnte man so mutlos, so feige sein, ohne Kampf aufzugeben? Jesus hat uns ein Beispiel gegeben, pflegte die Äbtissin darauf zu erwidern, doch ich war im Inneren viel zu zornig, um mich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen zu lassen. Und ich verstand es auch nicht, wenn andere den Kopf senkten, anstatt sich aufzubäumen.
»Hans, noch bist du am Leben. Gib dich nicht auf! Es gibt immer einen Ausweg!«
Doch Hans schüttelte nur müde den Kopf. »Ich bin meinen Weg gegangen. Nun nehme ich mein Schicksal dankbar an.«
»Das verstehe ich nicht!«, brach es schluchzend aus mir heraus. Meine Fäuste wollten auf seine schmächtige Brust eintrommeln. »Wie kannst du so sein? Im Angesicht des Todes!«
»Hört zu.« Hans lächelte inzwischen wie ein Märtyrer. Er wandte sich an William. »Du wolltest wissen, wie ihr euch retten könnt?«
William hatte aufgegessen und bohrte in seinen Zähnen. Dabei nickte er nun eifrig.
»Ihr habt großes Glück«, fuhr Hans fort, »denn morgen ist Markt- und somit Gerichtstag.«
»Glück?«
»Natürlich. Oder wäre es euch lieber, hier im Kerker noch ein halbes Jahr zu schimmeln, bis der nächste Gerichtstag stattfindet?«
Ich war mir nicht so sicher, ob ich nicht lieber gewartet hätte. Doch William nickte heftig: »Erkläre uns jetzt unsere Rettung.«
»Nun gut. Gebt acht. Wichtig ist, dass ihr den Richter um ein Gottesurteil bittet. Egal, was passiert, besteht darauf, es muss euch gewährt werden.«
»Ein Gottesurteil?«
»Ja. Hört gut zu.«
Wir hörten zu. Und er erzählte: »Es ist alles nur eine Frage der Mathematik und des Wetters. Es sollte nicht regnen …«
30
Gottesurteil
H ans’ Hinrichtung war wie ein schrecklicher Alptraum. Ich sah das Schafott. Es stand bereit, mit Schandpfahl und einem von Reisig und Brennholz umrahmten Galgen.
Der Henker und seine Helfer trafen die Vorbereitungen mit nüchterner Gründlichkeit. Funktionierte die Falltür einwandfrei? Hatte der Strick die richtige Länge? War der Knoten ordentlich geknüpft, Brennholz in genügendem Maß vorhanden und richtig gestapelt? Betrachtete man die Männer bei der Arbeit, bekam man das Gefühl, Hans gäbe bei ihnen sein Leben in gute Hände.
Währenddessen diskutierten William und ich tuschelnd über unser Schicksal.
»Es ist ganz einfach«, flüsterte William. »Wir machen alles genau so, wie Hans es gesagt hat.«
»Und wenn er sich verrechnet hat?«
»Entweder wir vertrauen ihm oder nicht.«
Das war das grundsätzliche Problem. Hans’ Plan klang verlockend. Doch konnten wir seiner Geschichte überhaupt Glauben schenken? Was, wenn die Sache nur seiner Fantasie entsprungen war? Ich flüsterte zurück: »Vielleicht hat er alles nur erfunden?«
»Warum sollte er?«
»Vielleicht, um sich vor uns aufzuspielen. Oder – ich weiß nicht.«
»Es ist unsere einzige Möglichkeit, die rechte Hand zu behalten.«
Verzweifelt ballte ich eine Faust und öffnete sie wieder. »Wir riskieren mehr als eine Hand. Gottesurteil heißt, wir bieten dafür unser Leben!«
»Es bleibt uns wohl trotzdem keine Wahl.«
Ich blickte zum Schafott, wo der Scharfrichter sein Werkzeug auslegte: Beil, Henkersschwert,
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