Die Knopfmacherin
wenig, wie sie wusste, woher der Traum gekommen war, konnte sie gegen den Aufruhr in ihrem Innern angehen. Was, wenn das ein Hilferuf von Alina war?
Sie brauchte jemanden, der ihr einen Rat geben oder sie zumindest beruhigen konnte.
Obwohl sie wusste, dass es sich nicht schickte, verließ sie den Raum und trat vor Bernhards Kammertür. Nach kurzem Zögern pochte sie sanft an das Holz.
Wahrscheinlich schläft er und hört mich gar nicht, dachte sie. Vielleicht ist es auch gut so. Es war dumm von mir.
Als sie sich schon umwenden wollte, wurde die Tür entriegelt. Bernhard blickte sie verschlafen und verwundert an.
»Melisande, was …«
»Darf ich reinkommen?«, fragte sie. »Ich hatte einen furchtbaren Traum und will nicht allein sein.«
Der Junge trat nach einem kurzen Zögern zur Seite. »Komm nur rein und erzähl ihn mir.«
Noch nie zuvor war sie in Bernhards Kammer gewesen! Als Melisande das bewusst wurde, musste sie gegen den Schwindel ankämpfen, der sie überkam. Der Geselle schlief auf einem richtigen Bettkasten und hatte eine Truhe, in der er seine Habseligkeiten unterbringen konnte. Die Luft in der Kammer war ein wenig abgestanden, aber sie duftete nach ihm, wenn er dicht an ihr vorbeiging oder neben ihr stand. Als Melisande das bewusst wurde, hätte sie am liebsten sofort kehrtgemacht. Doch sie wollte nicht, dass Bernhard sie für ängstlich hielt.
»Setz dich!«, sagte er, während er das Hemd in die Hose schob, um nicht allzu unordentlich zu wirken.
Da es keine andere Gelegenheit zum Sitzen gab, hockte sich Melisande auf die Bettkante. Zum zweiten Mal bereute sie es nun schon, hergekommen zu sein. Was sollte der Meister von ihr denken, wenn er sie hier sah?
Doch Meister Ringhand schnarchte in seiner eigenen Kammer. Und sie würde sich schon zu wehren wissen, für den Fall, dass Bernhard Dummheiten im Sinn hatte.
»Also los, erzähl, was dich bedrückt«, forderte der Geselle sie auf, während er sich neben sie setzte.
Ihn so dicht zu spüren, verschlug ihr im ersten Moment die Sprache. Aber dann fasste sie sich ein Herz und berichtete ihm von den schrecklichen Bildern und der Behauptung, Alina würde bereits in der Hölle schmoren.
Nachdem sie geendet hatte, kratzte sich Bernhard am Kopf. »Das ist wirklich ein grässlicher Traum«, gab er zu. »Aber ein Traum bleibt ein Traum. Meine Mutter sagte immer, dass uns die Nacht zeigt, was wir am Tage fürchten. Oder von dem wir nicht zugeben wollen, dass wir uns davor fürchten.«
»Und wenn es nun ein Omen ist?«
Bernhard schüttelte den Kopf. »Nichts und niemand kann die Zukunft eines anderen Menschen vorhersehen. Die Gaukler auf dem Jahrmarkt, die das behaupten, sind Schwindler und Scharlatane. Dass du von Alina oder der Suche nach ihr träumst, zeigt höchstens, wie fest du daran glaubst, dass sie noch am Leben ist.«
»Das tue ich. Nur manchmal bin ich mir nicht mehr sicher …«
»Das ist kein Wunder bei der langen Zeit, die ihr nun schon getrennt seid. Aber gib die Hoffnung nicht auf. Die Menschen auf der Straße mögen deine Schwester auf dem Bild nicht erkennen, aber du hast selbst mitbekommen, wie halbherzig sie die Zeichnung anschauen. Auf die Sorgen und das Leid eines anderen Menschen blickt man nur, wenn er einem wichtig ist.«
Wenn das so war, musste sie Bernhard ziemlich wichtig sein, immerhin war er bereit, sie sogar nach einem schlechten Traum zu trösten.
Als der Geselle vorsichtig den Arm um sie legte, wurde sie auf einmal starr. Sie wollte protestieren und ihn zurückschieben, doch seltsamerweise war sie wie gelähmt. »Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht hierbleiben«, sagte er sanft.
Zu sanft für ihre Ohren, weshalb sie erneut der Drang packte, nach draußen zu laufen. Aber seine Nähe vermittelte ihr eine Geborgenheit, die sie nicht aufgeben wollte. Nicht, nachdem ihr der Traum so schreckliche Bilder geschickt hatte.
Ein wenig zögerlich und auch ängstlich lehnte sie sich an ihn. Bernhard schien das zu spüren, denn er flüsterte ihr sanft zu: »Keine Sorge, ich will nichts Unkeusches von dir. Ich will nur, dass die bösen Träume von dir fernbleiben, damit du beruhigt schlafen kannst.«
»Kannst du denn böse Träume vertreiben?«, fragte sie zweifelnd.
»Aber sicher!«, behauptete der Geselle. »Wenn einer kommt, werde ich ihn beim Kragen packen und aus dem Fenster werfen.«
Er lächelte ihr aufmunternd zu und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Melisande zögerte noch ein wenig, dann ließ sie
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