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Die Knopfmacherin

Die Knopfmacherin

Titel: Die Knopfmacherin
Autoren: Corinna Neuendorf
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kann«, sagte er dann.
    Melisande eilte in die Küche. Ihr Innerstes fühlte sich dumpf an. Was, wenn der Meister starb? Doch das war nicht ihre einzige Sorge. Immerhin stand auch noch die Forderung der Hurenwirtin im Raum. Wie sollte sie das Geld bloß auftreiben?
    In der Küche fand sie Grete zusammengesunken auf einem Stuhl neben dem Herd. Offenbar war sie nicht in der Lage gewesen, den Sud zu kochen. Schluchzend schniefte sie in ein Tuch und wirkte vollkommen abwesend.
    »Wo bleibt denn die Schüssel?«, tönte es da aus der Schlafkammer.
    Melisande zuckte zusammen, griff rasch die erstbeste Schale, die sie in der Küche fand, und kehrte damit zurück. Ich kann mich später um Grete kümmern, dachte sie, während sie zurück zum Meister stürmte.
    »Halte sie unter den Arm«, sagte der Medicus.
    Melisande tat wie geheißen und beobachtete, wie der Mann ein kleines, scharf geschliffenes Messer hervorzog. Damit schlitzte er die Ader auf, aus der sich nur einen Atemzug später ein träger, dunkler Blutstrom ergoss. Zunächst sah Melisande noch hin, doch auf einmal war es ihr, als würde ihre Seele aus dem Körper gezerrt werden. Die Lanzette des Arztes wuchs zu einem Schwert, und der Arm von Meister Ringhand wurde zur Brust ihres Vaters. Tief bohrte sich die Klinge zwischen seine Rippen. Der Aufschrei ihres Vaters, der für alle anderen unhörbar durch ihren Verstand hallte, ließ Melisande schwanken. Während es wild vor ihren Augen flackerte, wurden ihr die Arme schwer.
    Bernhard fing die Schüssel gerade noch so auf. »Melisande, alles in Ordnung?«, fragte er.
    Seine Stimme zerrte das Mädchen aus dem Taumel fort. »Ja«, antwortete sie, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Das schreckliche Bild zog sich nur langsam zurück.
    »Geh nach draußen, ich übernehme das hier«, sagte Bernhard sanft.
    Der Arzt blickte verwundert auf. »Kann sie denn kein Blut sehen?«
    »Offenbar nicht. Ich werde Euch helfen, werter Herr.«
    Melisande, die immer noch wacklig auf den Beinen war, stützte sich an der Wand ab und schritt durch die Tür. Ihr Magen rumorte, Übelkeit schnürte ihr die Kehle zu. Selbst als sie in den Garten ging, wurde sie die Bilder ihrer toten Eltern nicht los. Sie ließ sich auf einem Stein nieder, krümmte sich zusammen und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf ihren Atem. Trotz allen Unwohlseins strömte die Luft gleichmäßig in die Lungen, und nach einer Weile hatte sie den Schwindel bezwungen.
    Im Garten war alles still. Sämtliche Wolken waren verschwunden. Über die Werkstatt spannte sich ein klarer Sternhimmel, an dem der Mond wie ein großer silberner Knopf prangte.
    Die kühle Luft klärte ihren Verstand wieder, so dass sie die Kraft hatte, die schrecklichen Bilder zurückzudrängen. Melisande ging zu der steinernen Umzäunung des Kräutergartens, der nun fast vollständig kahl war, und setzte sich dort hin.
    Am Ende hatte der Bettler aus dem Judenviertel doch recht und es gibt tatsächlich Geister, überlegte sie. Wenn ja, sind meine Eltern vielleicht noch hier bei mir. Wer weiß, womöglich kann ich ihre Seelen schon bald erlösen.
    »Vater, Mutter, ich habe Alina gefunden«, wisperte sie leise. »Bitte helft mir, sie zu befreien.«
    Als die Tür hinter ihr ging, wandte sie sich um. Die Stimmen von Bernhard und dem Medicus drangen undeutlich zu ihr herüber.
    Melisande hätte gern gewusst, was sie miteinander besprachen, doch bevor sie zu ihnen gehen konnte, hatte sich der Medicus auch schon verabschiedet und war gegangen. Bernhard kam unverzüglich zu ihr.
    »Wie steht es um den Meister?«, fragte Melisande.
    »Der Arzt sagt, dass die Situation sehr ernst ist«, erklärte Bernhard mit zitternder Stimme. »Er hat mir noch ein paar Arzneien dagelassen.«
    »Wird er es überleben?«
    »Das liegt allein in Gottes Hand. Wir sollten für ihn beten.«
    Melisandes Innerstes krampfte sich zusammen. War das der Preis dafür, dass sie Alina gefunden hatten? War es ihr vom Schicksal bestimmt, dass sie jedes noch so kleine Glück mit einem großen Unglück bezahlen musste?
    Bernhard nahm sie vorsichtig an der Hand und zog sie mit sich. Schweigend gingen sie zur Schlafkammer des Meisters. »Wir müssen seiner Schwester Bescheid geben«, sagte Bernhard, als sie eintraten.
    »Nein!«, platzte Melisande heraus. »Sie ist bestimmt schuld, dass er krank wurde. Hätte die alte Vettel nicht so herumgekeift …«
    »Trotz allem ist der Meister ihr Bruder.«
    Melisande funkelte Bernhard zornig an.
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