Die Knopfmacherin
werden die Gefangenen festgehalten?«, fragte sie den Gesellen, während sie nervös mit dem Band ihrer Schürze spielte. »Etwa unter dem Dom?«
»Wo denkst du hin!«, entgegnete Bernhard. »Sie sind natürlich im Altpörtel eingeschlossen. Hast du denn nicht durch dieses Tor die Stadt betreten?«
Melisande überlegte. Das Tor, durch das sie gekommen war, hatte einen großen Turm gehabt. Aber den Namen kannte sie nicht. »Ich bin mir nicht sicher. Wie sieht das Altpörtel denn aus?«
»Es ist ein schwerer, massiger Turm mit Rundbogenfenstern und schwarzen Eichenholztüren. Die Bürgerschaft bemüht sich seit einiger Zeit, den Bürgermeister davon zu überzeugen, ihn noch höher zu bauen.«
Diese Beschreibung passte. War sie, ohne es zu wissen, am Kerker vorbeigekommen? Warum hatte sie die Wachen nicht danach gefragt?
Während Ärger in ihr aufstieg, wurde es auf einmal ganz still. So still, dass man Hufschlag und das Ächzen von Wagenrädern vernehmen konnte. Gespannt blickten die Menschen die Straße entlang. In diesem Augenblick hätte ein Beutelschneider leichtes Spiel gehabt, doch nicht mal die wollten sich den Vorbeizug der Gefangenen entgehen lassen.
Zunächst tauchten Reiter auf, die in den Farben des Bischofs gekleidet waren. Schwer bewaffnet bahnten sie den Nachfolgenden einen Weg. Der Wagen mit den Gefangenen wurde von zwei schweren braunen Pferden gezogen und bestand aus festen Eisenstäben, die niemand hätte durchbrechen können. Doch die Männer in seinem Innern wären ohnehin nicht mehr dazu fähig gewesen. Schmutzig und geschunden kauerten sie auf dem Boden und kümmerten sich nicht um die Schmährufe, die hier und da laut wurden.
Vor lauter Schock über den Anblick hätte Melisande beinahe vergessen, nach ihrer Schwester Ausschau zu halten. Rechtzeitig genug fiel es ihr aber wieder ein, daher stellte sie sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals. Die Beschwerde einer Frau hinter ihr, der sie damit die Sicht versperrte, ignorierte sie. Nacheinander streifte ihr Blick über die Gesichter der Gefangenen und die Hinterköpfe jener, die mit dem Rücken zu ihr dasaßen. Alina entdeckte sie unter ihnen nicht. Lange blickte sie dem Wagen nach, und erst als sie realisierte, dass sich ihre Augen nicht getäuscht hatten, ließ sie sich wieder auf den ganzen Fuß hinunter.
Die Bilder brannten vor ihren Augen, und während nun weitere Reiter sowie Vertreter des bischöflichen Gerichts an ihnen vorüberzogen, spürte sie anstatt Erleichterung Tränen in sich aufsteigen. Die Männer auf dem Wagen hatten sicher alle Frauen und Kinder, die nach der Hinrichtung ihrer Ernährer in Elend und Hunger versinken würden. War das gerecht? War das Anliegen von Joß Fritz vielleicht doch edler, als sie alle dachten?
Jemand berührte sie am Arm.
»Komm, wir müssen zurück.«
Erst auf Bernhards Worte bemerkte sie, dass sich die Menge der Schaulustigen wieder zerstreute. Meister Ringhand wartete ungeduldig an der Hausecke hinter ihnen.
Alina war nicht dabei, dachte Melisande, während sie sich umwandte und den beiden Männern zurück zur Werkstatt folgte. Dennoch war sie nicht erleichtert. Vielleicht hatte der Wirt ja recht?, überlegte sie. Vielleicht ist meine Schwester nie in Speyer angekommen?
Als die Verzweiflung ihr schon die Brust zuschnüren wollte, zwang sie sich zur Ruhe. Heute Nacht werde ich erneut nach ihr suchen. Vielleicht sind Gott und die Heilige Jungfrau ja diesmal auf meiner Seite.
Bevor die Glocke fünf läutete und damit das Schließen der Stadttore verkündete, begab sich Melisande auf Geheiß von Ringhands Haushälterin in den Garten, um die letzte brauchbare Petersilie zu pflücken. Schon bald würde die Kälte das letzte grüne Blatt absterben lassen, und Grete wollte auf keinen Fall etwas vergeuden.
Melisande übernahm diese Arbeit gern, hatte sie doch so die Gelegenheit, in Ruhe nachzudenken.
Dass sie Alina nicht auf dem Karren gesehen hatte, beruhigte sie ein wenig, gleichzeitig überkam sie jedoch wieder die Angst, dass ihre Schwester nicht mehr am Leben war. Was hatten die Männer, die Alina mitgenommen hatten, nur mit ihr gemacht?
Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Rasch wandte sie sich um.
Bernhard blieb eine Armlänge von ihr entfernt stehen und lächelte sie unsicher an. »Wie geht es dem Garten?«
Melisande schoss das Blut in die Wangen. In der Werkstatt war es egal, wie nahe er ihr kam. Doch jedes Mal, wenn sie mit ihm allein war, erfasste sie eine gewisse
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