Die Knopfmacherin
Fläche war im Mondschein gut zu überblicken. Wenn Meister Ringhand sich umwandte, würde er gewiss bemerken, dass er verfolgt wurde.
Schon bald war Melisande klar, dass diese Vorsicht übertrieben war. Ihr Lehrherr blickte sich auch jetzt nicht um. Er durchquerte noch einige weitere Gassen und ignorierte selbst die Männer, die ihm betrunken entgegentorkelten.
Als Melisande sich schon fragte, wohin er überhaupt wollte, tauchte eine Kirche vor ihr auf. Die Zwillingstürme ragten weit in den mondbeschienenen Himmel.
Will er mitten in der Nacht beten?, fragte sich Melisande. Doch dann beobachtete sie, dass der Knopfmacher das Gebäude umrundete. Nicht das Gotteshaus war sein Ziel, sondern der Friedhof dahinter. Das Mädchen folgte ihm in einigem Abstand und blieb schließlich neben dem Kirchenschiff stehen. Ringhand schritt durch die Reihen der Kreuze, die wie ein Wald aus verschiedenen Bäumen wirkten. Einige von ihnen waren klein und schlicht, andere prachtvoll verziert und groß. Vor einem dieser Kreuze neigte Ringhand das Knie und sank zu Boden.
Die Worte, die er dabei murmelte, konnte Melisande zwar nicht verstehen, doch ihr war klar, dass er Zwiesprache mit jemandem hielt. Bisher hatte niemand darüber geredet, ob der Meister eine Frau gehabt hatte. Selbst Grete, die sonst recht viel Klatsch aus der Stadt mitbrachte und ihn genüsslich breittrat, hüllte sich darüber in Schweigen. Bernhard hatte bisher nicht viel über ihren Lehrherrn gesprochen, er tischte ihr lieber irgendwelche Geschichten auf. Und für den Meister gab es, wie erwartet, nichts als das Handwerk. Nur selten fielen private Worte in der Werkstatt.
Und nun sah sie ihn hier. Eine Weile hockte er noch vor dem Grab, dann bekreuzigte er sich und stand auf.
Schnell wich Melisande zurück in die Schatten. Dass sie den Meister beobachtet hatte, beschämte sie mit einem Mal so sehr, dass sie kein Verlangen mehr verspürte, sich das Grabkreuz näher anzusehen.
Sie presste sich an die Kirchenmauer, wartete geduldig, bis der Knopfmacher an ihr vorüber war, und wagte erst wieder richtig durchzuatmen, nachdem Ringhand um die Ecke gebogen war.
Sie ließ ihn ein Stück vorausgehen, dann schloss sie sich ihm an. Nach dem, was sie gesehen hatte, fehlte ihr die Kraft, mit ihrer Suche weiterzumachen. Was, wenn von Alina auch nur ein Grab geblieben ist, irgendwo außerhalb der Stadtmauern? Der Gedanke senkte ihren Mut und ließ ihre Beine schwer werden, so dass sie Mühe hatte, leise zu gehen. Sie ließ sich noch ein wenig zurückfallen und wartete dann hinter dem der Werkstatt gegenüberliegenden Haus, bis der Meister das Licht gelöscht hatte.
Am nächsten Morgen fühlte sich Melisande wie zerschlagen. Zwar war es ihr gelungen, unbemerkt ins Haus zu schleichen, dennoch hatte sie kein Auge zugetan. Zum einen hatte sie sich darüber geärgert, dass auch diese Nacht verstrichen war, ohne dass sie etwas von Alina in Erfahrung gebracht hatte. Zum anderen hatte sie sich geschämt, Meister Ringhand nachgegangen zu sein.
Die Frage, wessen Grab er so spät noch besucht hatte, ging ihr dennoch nicht aus dem Sinn. Ob es vielleicht eine Verwandte war? Seine Gemahlin gar? Melisande konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie ihr Lehrherr sein Lebtag ohne Weib verbracht hatte.
»Hast du auch mitbekommen, dass der Meister gestern Abend noch spät hinausgegangen ist?«, fragte Melisande vorsichtig, als sie sich an ihrer Werkbank niederließ. Beim Frühstück hatte sie keine Gelegenheit gehabt, allein mit Bernhard zu sprechen. Nun war der Meister noch nicht da, und Melisande fasste sich ein Herz.
Bernhard blickte sie überrascht an. »Wann hast du das gesehen?«
Blut schoss in Melisandes Wangen. »Ich … ich konnte gestern nicht einschlafen und habe aus dem Fenster geschaut. Da habe ich beobachtet, wie er das Haus verlassen hat.«
Bernhard seufzte. »Das macht er schon seit einer ganzen Weile. Gestern hatten wir den Siebzehnten des Monats, nicht wahr?«
Melisande zuckte mit den Schultern. Seit Alinas Entführung zählte sie die Tage anders als gewöhnlich. Es gab für sie nur noch solche, die verstrichen, ohne dass sie ein Lebenszeichen von ihrer Schwester erhalten hatte.
»Es war der Siebzehnte«, beantwortete Bernhard seine Frage schließlich selbst. »An einem Siebzehnten ist Meister Ringhands Gemahlin gestorben, nachdem sie lange Zeit krank war.« Bernhard erschauderte kurz, bevor er fortfuhr. »Die Zeit, in der sie mit dem Tode gerungen hat, war
Weitere Kostenlose Bücher