Die Könige: Orknacht (Die Könige 1) (German Edition)
Mausoleum, in dem König Corwyn und seine Gemahlin Alannah ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, und ohne dass sie es zu erklären vermocht hätte, schenkte sein Anblick Aryanwen ein wenig Trost – freilich nicht für lange. Schon konnte sie hören, wie sich jenseits des Vorplatzes das Torgitter hob. Heisere Befehle wurden gebrüllt, Pferde wieherten und stampften unruhig mit den Hufen. Nur noch Augenblicke, und eine ganze Schwadron berittener Soldaten würde aus dem Tor stürmen und die Verfolgung aufnehmen, und wenn Aryanwen bis dahin kein Versteck gefunden hatte, war sie rettungslos verloren!
Von Furcht getrieben, rannte sie weiter, auf der verzweifelten Suche nach einem Versteck – als ihr auffiel, dass das Tor des Grabmals offen stand … Oder war das nur eine Täuschung, etwas, das ihre gehetzten Sinne ihr vorgaukelten?
Nein!
Das eiserne Tor, das aus einem einzigen großen, mit dem Königsemblem verzierten Flügel bestand, stand tatsächlich einen Spalt weit offen. Wie war das möglich? Das Tor war verschlossen seit dem Tag, da das Volk von Tirgaslan seine große Königin zu Grabe getragen hatte, die dem Elfendasein entsagt hatte und ihrem sterblichen Gemahl gefolgt war. Wie es hieß, hatte ein alter Diener, der der Königin treu ergeben war bis in den Tod, das Mausoleum von innen versiegelt, hatte sein Leben geopfert, auf dass niemand die Ruhe Alannahs und ihres Gemahls Corwyn stören könne.
Mehr als vier Jahrhunderte lag dies zurück, und über all diese Zeit war das Tor unzugänglich geblieben – und nun?
Allein der Vorgang war so ungeheuerlich, dass Aryanwen ihre Schritte unwillkürlich auf das Tor zulenkte. Als sie den Hufschlag der Pferde hörte, die durch das Palasttor drängten, beschloss sie kurzerhand, sich in die Obhut ihrer Ahnen zu begeben, die das Reich einst regiert und zu neuer Blüte geführt hatten. Hals über Kopf rannte sie auf die Pforte des Grabmals zu, fürchtete fast, dass sie sich wieder schließen könnte, ehe sie sie erreichte, oder dass es doch nur eine Sinnestäuschung wäre. Doch der dunkle Spalt blieb bestehen, und im selben Augenblick, in dem ihre Verfolger auf den Vorplatz sprengten, erreichte sie das Tor.
»Dort ist sie!«
Ein flüchtiger Blick über die Schulter – sie sah mehrere Reiter ihre Rösser wenden und auf das Mausoleum zu treiben. Kurz entschlossen tauchte Aryanwen in den Spalt.
Sie hielt den Atem an, so als befände sie sich unter Wasser, tastete sich durch abgründige Schwärze. Sie spürte einen kalten Luftzug, dann hörte sie einen dumpfen Knall.
Das Tor!
Aryanwen fuhr herum. Das eiserne Tor war hinter ihr ins Schloss gefallen, scheinbar wie von Geisterhand. Der Spalt war verschwunden, die Rufe der Wachen und der Hufschlag der Pferde jäh verstummt. Doch zu Aryanwens höchstem Erstaunen war es nicht völlig dunkel geworden. Ein fahles Leuchten war geblieben und spendete Licht.
So verwundert wie bestürzt taumelte Aryanwen weiter, sah sich um. Sie wusste nicht, worüber sie mehr erstaunt sein sollte – über die Tatsache, dass sie ihren Häschern im letzten Moment entwischt war oder darüber, dass sie sich tatsächlich im Inneren des Grabmals befand und mit eigenen Augen zu sehen bekam, was sich im Inneren befand.
Der Anblick war überwältigend.
Über ihr erstreckte sich die steinerne Kuppel, eine frei tragende Konstruktion, die so bemalt war, dass sie dem Sternenhimmel in einer klaren Winternacht glich. Die Sterne an jenem künstlichen Himmel, aus Lichtgestein gefertigt, waren es auch, die für die Beleuchtung sorgten.
Unterhalb der Kuppel befand sich ein gewaltiger steinerner Sarkophag, der halb im marmorgepflasterten Boden versenkt war und an die zwanzig Schritte im Quadrat messen mochte. Bildhauer und Steinmetze hatten die Seitenwände mit reliefartigen Darstellungen versehen, die verschiedene Stationen aus dem Leben Alannahs und Corwyns zeigten: ihre Zeit als Hohepriesterin des Tempels von Shakara und sein abenteuerliches Leben als Kopfgeldjäger; ihre gemeinsame Suche nach der Verbotenen Stadt, ihren Kampf gegen den Dragnadh und das Erringen der Elfenkrone; den Krieg gegen Kal Anar und den Kampf gegen den Dunkelelfen; die Geburt ihres Sohnes Iain und noch manches mehr. Der Sarkophag hingegen, in dessen Innerem die sterblichen Überreste des Königs und der Königin aufbewahrt wurden, war so gestaltet, dass seine Oberseite Corwyn und Alannah zeigte, in geradezu riesenhafter Größe und nebeneinander liegend, im Tod auf ewig
Weitere Kostenlose Bücher