Die Könige: Orknacht (Die Könige 1) (German Edition)
»Ich habe mich nur gerade gefragt, ob ein Mädchen in dieser Zeit und Welt überhaupt eine Chance hat.«
Der Alte wirkte amüsiert. »Hast du vergessen, dass die Geschichte Erdwelts auch von Frauen geschrieben wurde?«
»Nein, das habe ich nicht. Aber in diesen Tagen kann nur bestehen, wer mit dem Schwert in der Hand zu kämpfen vermag.« Dag biss sich auf die Lippen. Er hasste sich für die Worte, denn sie hätten ebenso gut von seinem Vater stammen können. Aber hatte der alte Osbert nicht recht behalten? Hatte sich die friedliche Welt, von der Dag stets geträumt hatte, nicht als Täuschung erwiesen? Als haltloser Traum? War er nicht genau der weltfremde Narr gewesen, als den sein Vater ihn stets beschimpft hatte?
»Nun«, meinte Dwethan leise, »dann hast du jetzt einen Grund mehr, dafür einzutreten, dass sich die Dinge verändern – schon um deiner Tochter willen.«
»Meine Tochter.« Dag lachte auf. »Selbst wenn es uns gelingt, die Aufständischen zu finden, und selbst wenn sie mir helfen, Aryanwen und das Kind aus Tirgaslan zu befreien – ich werde meine Tochter nie mit eigenen Augen sehen können!«
»Mit den Augen vielleicht nicht«, räumte Dwethan ein. »Aber mit deinem Herzen.«
»Was sagt Ihr da?« Dag horchte auf.
»Unter Weisen ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass vieles von dem, was die Menschen als wichtig erachten, mit den Augen nicht zu erkennen ist«, erklärte der Alte. »Man vermag es lediglich mit dem Herzen zu sehen – so wie die Liebe eines Vaters zu seinem Kind.«
»Ich habe diese Worte schon einmal gehört«, sagte Dag leise, dessen Gedanken um viele Jahre zurückwanderten, zu einem blinden Spielmann, dem er einst begegnet war.
»Vermutlich, weil sie wahr sind«, nahm der Alte an.
»Und Ihr seid sicher, dass Ihr nie in der Burg von Ansun gewesen seid?«, hakte Dag nach.
»Nicht, dass ich wüsste. Warum fragst du?«
»Nur so.«
»Wenn du erlaubst, würde ich mich jetzt ein wenig schlafen legen«, sagte Dwethan. »Du bist dran mit Wachen.«
»Ich?« Dag deutete auf seine Brust. »Aber ich …«
»Auch ich vermag nicht zu sehen, was jenseits des Feuers in der Dunkelheit lauert«, erwiderte der Alte leise, während er sich bereits niederließ. »Aber anders als ich hast du die Ohren eines Luchses und den Geruchssinn einer Schlange.«
»Aber …«
»Du musst wieder lernen, dir zu vertrauen und an dich zu glauben, mein Junge«, murmelte der alte Prediger, während der Schlaf ihn bereits zu umfangen schien. »Andere tun es nämlich längst.«
20
W as ist das?«
Vom Thron der Äxte herab starrte Winmar von Ruun auf das kleine, metallbeschlagene Kästchen, das ihm der Diener entgegenhielt.
»Dies wurde soeben von einem Boten aus Tirgaslan gebracht, Herr«, erklärte der Diener geneigten Hauptes.
»Aus Tirgaslan«, echote Winmar und schickte den Gelehrten, die sich um das Thronpodest scharten, einen fragenden Blick. »Was hat das zu bedeuten? Vigor?«
»Möglicherweise.« Ansgars grauen Zügen war anzumerken, dass ihm der Gedanke, sein Rivale könnte die Mission allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgreich zu Ende gebracht haben, ganz und gar nicht gefiel.
Auch Winmar verspürte Unbehagen. Der Zwergenherrscher hatte sich neugierig auf dem Thron vorgebeugt, wagte jedoch nicht, nach dem Kästchen zu greifen. »Mach es auf!«, wies er stattdessen kurzerhand den Diener an.
Der Diener nickte, drehte das Kästchen in seinen Händen und schickte sich an, das Siegel aufzubrechen.
»Los doch!«, drängt Winmar. »Worauf wartest du? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«
Der Diener fasste sich ein Herz und öffnete den Deckel. Als er sah, was sich im Inneren befand, sog er nach Luft und verzog angewidert das Gesicht. Offenbar verströmte der Inhalt des Kästchens einen wenig erbaulichen Geruch.
»Was ist es?«, fragte Winmar ungeduldig und aus sicherer Entfernung.
»I-ich weiß es nicht, Herr.« Der Diener griff in das Kästchen und zog ein dunkelrot gefärbtes Stück Stoff hervor. »Hier ist etwas eingewickelt.«
Mit den Fingern fischte der Diener den Stoff aus dem Kästchen. Was danach übrig blieb, reichte er an Winmar weiter, der einen vorsichtigen Blick hineinwarf.
Zuerst sah er nur Blut.
Dann wurde ihm klar, was das blutige, fleischige Etwas war, das in dem Kästchen lag.
Es war ein Herz.
Ein kleines Herz.
Das Herz eines Kindes!
Winmar schnappte nach Luft – nicht des grausigen Fundes wegen. Sondern weil er bedeutete, dass Vigor seinen Auftrag
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