Die Königin der Weißen Rose
Edward und meiner Familie.
Edward wäre auf der Stelle getötet worden, wenn sie ihn ergriffen hätten, doch er ist ihnen entkommen, so viel ist klar. Aber niemand weiß, wo er ist, und jeden Tag kommt jemand zum Tower, um mir zu versichern, er habe ihn gesehen und er sterbe an seinen Wunden, oder er habe ihn gesehen und er sei auf der Flucht nach Frankreich, oder er habe ihn tot auf einer Bahre liegen sehen.
Meine Jungen kommen müde und schmutzig von der Reise nach Hause, wütend, dass sie nicht mit dem König fliehen durften. Ich versuche, mich nicht an sie zu klammern oder ihnen öfter einen Kuss zu geben als morgens und abends, aber ich kann kaum glauben, dass sie sicher zu mir zurückgekehrt sind. So wie ich nicht glauben kann, dass mein Gemahl und mein Bruder nicht hier sind.
Ich schicke meiner Mutter eine Nachricht nach Grafton, dass sie zu uns in den Tower kommen soll. Ich brauche ihren Rat und ihre Gesellschaft, und wenn wir tatsächlich verloren sind und ich ins Ausland gehen muss, will ich sie bei mir haben. Doch der Bote kommt mit ernstem Gesicht zurück.
«Eure Frau Mutter ist nicht zu Hause», berichtet er.
«Wo ist sie?»
Er weicht aus, als wünschte er, ein anderer könnte mir die schlechte Nachricht überbringen. «Sag es mir sofort!», fahre ich auf, meine Stimme scharf vor Angst. «Wo ist sie?»
«Sie ist in Haft», gesteht er. «Auf Befehl des Earl of Warwick. Er hat angeordnet, sie zu verhaften, und seine Männer sind nach Grafton gekommen und haben sie weggebracht.»
«Warwick hat meine Mutter?» Mein Herz pocht schnell und laut. «Meine Mutter ist seine Gefangene?»
«Ja.»
Ich höre ein Klackern und sehe, dass meine Hände so sehr zittern, dass meine Ringe gegen die Armlehne des Stuhls klappern. Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen, und klammere mich an die Armlehnen, um nicht mehr zu zittern. Mein Sohn Thomas kommt näher und bleibt neben meinem Stuhl stehen. Richard tritt auf die andere Seite.
«Wie lautet die Anklage?»
Ich denke nach. Verrat kann es nicht sein: Niemand kann behaupten, meine Mutter hätte mehr getan, als mich zu beraten. Niemand kann sie des Verrats beschuldigen; sie war lediglich dem gekrönten König eine gute Schwiegermutter und seiner Königin eine liebevolle Gefährtin. Nicht einmal Warwick kann sich so weit erniedrigen, eine Frau des Verrats anzuklagen und zu köpfen, nur weil sie ihre Tochter liebt. Doch dieser Mann hat meinen Vater und meinen Bruder ohne jeden Grund getötet. Sein einziger Wunsch scheint es zu sein, mir das Herz zu brechen und Edward der Unterstützung durch meine Familie zu berauben. Dieser Mann wird mich töten, wenn er mich je in die Finger bekommt.
«Es tut mir so leid, Euer Gnaden …»
«Die Anklage?», will ich wissen. Mein Hals ist trocken, ich hüstele.
«Hexerei», sagt er.
Es ist kein Prozess nötig, um sich einer Hexe zu entledigen, auch wenn kein Hexenprozess je fehlgeschlagen wäre: Es ist leicht, Menschen zu finden, die unter Eid schwören, ihre Kühe seien gestorben oder ihr Pferd habe sie abgeworfen, weil eine Hexe einen Blick auf sie geworfen hat. Doch Zeugen und ein Prozess sind sowieso nicht vonnöten. Nur einen einzigen Priester braucht man, um eine Hexe schuldig zu sprechen. Oder ein Lord wieWarwick erklärt sie für schuldig, dann wird niemand sie verteidigen. Sie kann erwürgt und an der Dorfkreuzung verscharrt werden. Normalerweise muss der Schmied die Frauen töten, denn er hat von Berufs wegen große, starke Hände. Meine Mutter ist eine große Frau, eine berühmte Schönheit mit einem langen, schlanken Hals. Jeder Mann kann sie in wenigen Minuten erdrosseln, es muss kein muskulöser Hufschmied sein. Jeder von Warwicks Wachleuten könnte es mit Leichtigkeit tun. Jeder von ihnen würde es auf ein Wort hin – auf Warwicks Wort – bereitwillig tun, ohne mit der Wimper zu zucken.
«Wo ist sie?», will ich wissen. «Wohin hat er sie verschleppt?»
«In Grafton wusste niemand, wo sie hin sind», erklärt der Mann. «Ich habe alle gefragt. Ein Reitertrupp kam, Eure Mutter musste hinter dem befehlshabenden Offizier aufsitzen, und dann sind sie mit ihr nach Norden geritten. Sie haben niemandem gesagt, wohin. Sie haben nur gesagt, sie sei wegen Hexerei verhaftet.»
«Ich muss an Warwick schreiben», beschließe ich rasch. «Geh, iss etwas und hol dir ein frisches Pferd. Du musst losreiten, so schnell du kannst. Bist du bereit, sofort wieder aufzubrechen?»
«Sofort», sagt der Bote, verbeugt sich und
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