Die Königin der Weißen Rose
Andere, die Richard, Duke of Gloucester, so bewundern wie ich, sagen, er hätte erkannt, dass die frisch verwitwete, einsame junge Frau ihm im Norden Englands die Popularität bringen konnte, die ihr Mädchenname dort garantierte. Dass er über sie der gewaltigen Ländereien habhaft werden konnte, die an diejenigen grenzten, die er bereits von Edward erhalten hatte, und dass sie ihm als Mitgift ein Vermögenbringen würde, wenn es ihm gelingen würde, es ihrer Mutter zu entreißen. Eine junge Frau, die so einsam war und so ungeschützt, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Eine junge Frau, die daran gewöhnt war zu gehorchen, konnte man so einschüchtern, dass sie sogar ihre eigene Mutter hinterging. Diese Version unterstellt, dass Anne von einem York-Bruder eingesperrt und von dem anderen York-Bruder entführt und zur Heirat gezwungen wurde.
«Nicht ganz so hübsch», sage ich zu Anthony.
«Du hättest es verhindern können», sagt er in einem plötzlichen Anflug von Ernst. «Wenn du sie unter deine Fittiche genommen hättest, wenn du Edward dazu gebracht hättest, Richard und George zu befehlen, sie nicht in Stücke zu reißen wie Hunde ein Stück Fleisch.»
«Das hätte ich tun sollen», erwidere ich. «Denn jetzt hat Richard eine kleine Neville, das Vermögen der Warwicks und die Unterstützung des Nordens. Und George hat die andere Neville. Eine gefährliche Kombination.»
Anthony zieht eine Augenbraue hoch. «Du hättest es tun sollen, weil es richtig gewesen wäre», sagt er mit der Aufgeblasenheit des älteren Bruders zu mir. «Aber ich verstehe, dass du an nichts anderes denkst als an Macht und Vorteile.»
APRIL 1472
Meine Mutter hat ihre Hellsichtigkeit verloren. Kein Jahr nachdem sie mich gewarnt hat, ihr Herz würde nicht mehr lange schlagen, klagt sie über große Müdigkeit und bleibt in ihren Räumen. Das Kind, das ich an dem Tag des Primel-Rennens unter dem Herzen trug, kündigt sich zu früh an, und zum ersten Mal sehe ich ohne die Unterstützung meiner Mutter einer Niederkunft entgegen. Ich schicke ihr aus meinem abgedunkelten Zimmer Nachrichten, und sie antwortet fröhlich aus ihrem. Doch als ich mit einem zarten neugeborenen Mädchen aus meinem Gemach komme, finde ich meine Mutter in ihrem Zimmer zu müde, um aufzustehen. Jeden Nachmittag lege ich das kleine Mädchen, leicht wie ein Vögelchen, meiner Mutter in die Arme. Eine oder zwei Wochen lang sehen die beiden zu, wie die Sonne hinter dem Fenster versinkt, und dann entgleiten sie mir wie der goldene Sonnenuntergang.
In der Abenddämmerung des letzten Apriltages höre ich ein Rufen wie von einer Schleiereule, öffne die Fensterläden und schaue hinaus. Am Horizont steigt ein fahler Mond auf, weiß vor dem Himmel; auch er schwindet dahin, und in seinem kalten Licht höre ich ein Rufen, wie einen Chor, und ich weiß, dass es weder die Musik von Eulen ist noch Sänger noch Nachtigallen, sondern Melusine. Unsere Ahnherrin, die Göttin, lässt ihren Ruf erschallen,denn ihre Tochter Jacquetta aus dem Hause Burgund liegt im Sterben.
Eine Weile stehe ich am Fenster und lausche dem unheimlichen Pfeifen, dann schließe ich die Läden und gehe zum Zimmer meiner Mutter. Ich eile nicht. Ich weiß, dass es keine Eile hat. Sie liegt im Bett, das Neugeborene in ihren Armen, den kleinen Kopf an die Wange meiner Mutter geschmiegt. Sie sind bleich wie Marmor, sie liegen mit geschlossenen Augen da und scheinen friedlich zu schlafen, während die abendlichen Schatten den Raum verdüstern. Das Mondlicht auf dem Wasser vor den Fenstern wirft die Spiegelung der leichten Wellen an die weißgetünchte Zimmerdecke. Sie sehen aus, als wären sie unter Wasser, ließen sich mit Melusine in der Quelle treiben. Aber ich weiß, dass sie mich verlassen haben, und unsere Wassermutter singt für sie auf ihrer Reise den lieblichen Fluss hinunter zu den tiefen, heimatlichen Quellen.
SOMMER 1472
Der Schmerz über den Tod meiner Mutter endet nicht mit ihrer Beerdigung; er verheilt nicht mit den Monaten, die langsam verstreichen. Jeden Morgen wache ich auf und vermisse sie so wie am ersten Morgen nach ihrem Tod. Jeden Tag muss ich mich daran erinnern, dass ich sie nicht nach ihrer Meinung fragen, mit ihrem Rat hadern, über ihren Sarkasmus lachen oder mich über die Führung durch ihre Zauberkünste freuen kann. Und jeden Tag aufs Neue mache ich George of Clarence für die Ermordung meines Vaters und meines Bruders verantwortlich. Ich glaube, bei der Nachricht von ihrem
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