Die Königliche (German Edition)
übliche Weg in die Bibliothek führte aus der nördlichen Vorhalle des großen Schlosshofs geradewegs durch die Bibliothekstüren. Bitterblue entdeckte, dass es im ersten Raum Leitern gab, die auf Schienen liefen und zu balkonartigen Zwischengeschossen führten, die über Brücken miteinander verbunden waren. Überall reckten sich hohe Bücherregale wie dunkle Baumstämme im grellen Licht, das durch die Fenster hereindrang. In den Lichtstrahlen aus den hoch gelegenen Fenstern tanzte der Staub. Wie in der Nacht zuvor drehte Bitterblue sich im Kreis, spürte die Vertrautheit und versuchte sich zu erinnern.
Warum war sie so lange nicht hier gewesen? Wann hatte sie aufgehört zu lesen, abgesehen von den Unabhängigkeitsanträgen und Berichten, die über ihren Schreibtisch wanderten? Als sie Königin geworden war und ihre Ratgeber ihre Erziehung übernommen hatten?
Sie ging an Todds mit Papier bedecktem Schreibtisch vorbei, auf dem ein schlafender Kater lag, das dünnste und jämmerlichste Wesen, das Bitterblue je gesehen hatte. Er hob seinen ergrauten Kopf und fauchte Bitterblue an. »Ich nehme an, Todd und du versteht euch ziemlich gut«, sagte sie zu dem Tier.
Willkürliche Stufen, eine oder zwei hier und da, schienen ein Gestaltungsmerkmal der Bibliothek zu sein. Je weiter sich Bitterblue vorwagte, desto mehr Treppen stieg sie hinauf und hinab. Je weiter sie zwischen die Regale vordrang, desto dunkler und muffiger wurde es um sie herum, bis sie zurückgehen und eine Laterne von der Wand nehmen musste, damit sie den Weg fand. Als sie eine Nische betrat, die von Wandlampen an langen Armen schwach beleuchtet wurde, streckte sie die Hand aus und fuhr mit den Fingern über eine Schnitzerei am hölzernen Endstück eines Regals. Dann fiel ihr auf, dass die Schnitzerei eigenartig geformte Buchstaben waren, die sich zu großen, geschwungenen Wörtern anordneten: Geschichten und Erkundungen östlich von Monsea.
»Königin?«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie hatte gerade an die Erzählstuben gedacht, an die Geschichten von seltsamen Wesen in den Bergen. Das spöttische Lächeln ihres Bibliothekars brachte sie unsanft zurück in die Wirklichkeit. »Todd«, sagte sie.
»Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen, Königin?«, fragte er mit einem deutlich spürbaren Mangel an Hilfsbereitschaft.
Bitterblue musterte Todds Gesicht, sein grünes und sein purpurfarbenes Auge, die feindselig funkelten. »Ich habe neulich ein Buch hier gefunden«, sagte sie, »das ich als Kind gelesen habe.«
»Das überrascht mich nicht im Geringsten, Königin. Sowohl Ihr Vater als auch Ihre Mutter haben Sie immer ermutigt, die Bibliothek zu nutzen.«
»Ja? Todd, waren Sie mein ganzes Leben lang für diese Bibliothek verantwortlich?«
»Königin, ich bin seit fünfzig Jahren für diese Bibliothek verantwortlich.«
»Gibt es hier Bücher über die Zeit von Lecks Herrschaft?«
»Kein einziges«, sagte er. »Soweit ich weiß, hat Leck über nichts Buch geführt.«
»Nun gut«, sagte sie. »Konzentrieren wir uns also auf die letzten achtzehn Jahre. Wie alt war ich, als ich anfing hierherzukommen?«
Todd rümpfte die Nase. »Im zarten Alter von drei, Königin.«
»Und was für Bücher habe ich gelesen?«
»Größtenteils hat Ihr Vater Ihre Lektüre angeleitet, Königin. Er hat Ihnen Bücher aller Art gegeben. Geschichten, die er selbst geschrieben hatte; Geschichten anderer Autoren; die Tagebücher von Forschern aus Monsea; ein Buch über die Kunst von Monsea. Manche Bücher waren ihm bei Ihrer Lektüre besonders wichtig. Ich unternahm große Anstrengungen, um sie aufzutreiben, oder er selbst, um sie zu schreiben.«
Seine Worte flackerten wie Lichter kurz außerhalb ihrer Reichweite. »Todd«, sagte sie, »erinnern Sie sich, welche Bücher ich gelesen habe?«
Er hatte angefangen, die Bände auf dem Regalbrett vor sich mit einem Taschentuch abzustauben. »Königin, ich kann sie Ihnen in der Reihenfolge Ihrer Lektüre aufzählen und dann nacheinander den Inhalt jedes einzelnen Buches Wort für Wort zitieren.«
»Nein«, entschied Bitterblue. »Ich möchte sie selbst lesen. Bringen Sie mir die, die mein Vater am wichtigsten fand, Todd, in der Reihenfolge, in der er sie mir gegeben hat.«
Vielleicht konnte sie die fehlenden Teile finden, wenn sie bei sich selbst anfing.
In den nächsten paar Tagen las sie, wann immer es ging, blieb nachts zu Hause, verzichtete auf Schlaf und arbeitete sich schnell durch eine Reihe Bücher mit mehr Bildern als
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