Die Königsmacherin
flüsterte sie und wollte sich aus dem Zimmer stehlen.
»Setz dich, Flora«, forderte Frau Berta sie mit ungewöhnlich freundlicher Stimme auf. »Du möchtest deinem Kind die Welt zu Füßen legen, nicht wahr?«
Bertrada nickte stumm.
»Und dafür möchtest du sie selbst kennen?«
Wieder nickte Bertrada.
»Du erwartest, daß dein Kind, liebe Flora, zu deinem eigenen Retter wird. Daß dein Sohn, wie du schon so voreilig bestimmt hast, dir zu einem Recht verhelfen wird, das dir auf eine für mich immer noch unersichtliche Weise genommen wurde. Daß er dich erheben und aus meinem Frondienst entlassen wird.«
Ihre Stimme klang gar nicht mehr freundlich. »Du versündigst dich an deinem Kind.«
»Nein!« rief Bertrada erschrocken.
»Oh doch.«
Frau Berta wandte sich um, trat auf das Fenster zu und riß mit einem Ruck das Öltuch von der Öffnung. Sie hielt sich am Rahmen fest, starrte hinaus in die weiße Landschaft und schien die Schneeflocken nicht zu spüren, die nun hereintrudelten und auf ihrem Gesicht zerschmolzen.
»Ich habe einen Sohn«, setzte sie fort.
Bertrada blieb fast das Herz stehen.
»Und hat er Euch enttäuscht?« fragte sie atemlos.
Langsam wandte sich die alte Frau um.
»Nein!« fuhr sie Bertrada an. »Weil ich keine hohen Erwartungen an ihn gestellt habe! Ich wollte nur, daß er gesund ist, seines Lebens froh, und daß er seine Pflichten erfüllt. All dies ist eingetroffen, und dafür bin ich Gott jeden Tag aufs neue dankbar. Und jetzt hol die Magd, damit sie das Fenster wieder versperrt und Holz auf das Feuer legt.«
Damit beugte sie sich wieder über das Pergament.
Noch am Abend desselben Tages wurde Bertrada in Frau Bertas Zimmer gerufen. Auf dem Lesepult war ein dickes Buch aufgeschlagen.
»Du weißt ja, daß meine Augen mir nur zu oft den Dienst versagen«, meinte Frau Berta. »Lies mir bitte vor.«
Froh, daß ihr die Herrin offensichtlich die Anmaßung verziehen hatte, stellte sich Bertrada vor das Buch. Sie erstarrte. Es war ein griechischer Text.
»Das kann ich nicht«, antwortete sie kleinlaut.
»So!« rief Frau Berta fröhlich. »Dann wirst du es eben lernen. Es ist sehr beklagenswert, daß diese wunderbare Sprache heute selbst in den besten Kreisen in Vergessenheit geraten ist.«
Bei diesen Worten fiel Bertrada sofort Teles ein. Ob er inzwischen Griechenland erreicht hatte? Wie konnte sie herausfinden, ob er damals nicht doch noch aufgegriffen und wieder in ein Kloster verbracht worden war? Frau Berta hätte bestimmt keine Einwände dagegen, einen solchen Mann zu beschäftigen. Nicht nur, weil er Griechisch konnte, sondern auch, weil er ein schöner und würdevoller Mann war. Solche Männer hatte sie gern um sich, das war Bertrada aufgefallen. Ob sie es wagen durfte, die Herrin zu bitten, Erkundigungen über ihn einzuziehen?
Frau Berta griff hinter sich und zog ein Pergament hervor. »Hier ist die lateinische Übersetzung der ersten Seite. Lies!«
Bertrada begann:
»Melde den Mann, mir, Muse, den Vielgewandten, der vielfach umgeirrt, als Troja, die heilige Stadt, er zerstöret …«
Erleichtert blickte sie auf.
»Homer«, rief sie, »die Odyssee!«
»Der Anfang«, erwiderte Frau Berta, und es erschien Bertrada, als ob sie ein Schmunzeln verberge. »Es ist erst der Anfang.«
Dem Anfang folgten schwere Monate. Frau Berta ließ nicht zu, daß Bertrada über den Unterrichtsstunden, die Griechisch, Astronomie, Philosophie und Geschichte, Arithmetik, Geometrie und Heilkunst umfaßten, ihre sonstigen Aufgaben vernachlässigte. Und die fielen der jungen Frau mit jeder Unze, die sie an Körpergewicht zunahm, schwerer. Aber begierig sog sie alles auf, was ihr die Herrin beizubringen hatte. Ihre zaghafte Bitte, sich nach einem entlaufenen und möglicherweise wieder eingefangenen Sklaven zu erkundigen, hatte Frau Berta mit einem kurzen Satz abgelehnt: »Ich beschäftige keine Sklaven und habe dies auch Vater Gregorius untersagt.«
Bertrada war jetzt anwesend, wenn es darum ging, Streitereien unter den Hufebauern oder anderen Bewohnern von Frau Bertas Machtbereich zu schlichten, und immer häufiger fragte die Burgherrin sie nach ihrer Meinung. Abt Gregorius, der in Prüm die Gerichtsbarkeit ausübte, zeigte sich empört, als Frau Berta ihren Schützling zu einer Verhandlung mitnahm. Es ging um eine verheiratete Frau, die Ehebruch begangen hatte. Der betrogene Ehemann hatte das Paar im Heu überrascht und den Verführer auf der Stelle erschlagen. Die sündige Ehefrau lief
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