Die Kolonie
vor dem Ziel erblickt der Mann das alte Scheißhaus und fragt, ob wir mal kurz anhalten können. Er müsse mal, und zwar dringend, sagt er. Ich helfe ihm hinein.
Sobald er die Tür zugezogen hat und seine Gürtelschnalle auf dem Holzboden gefallen ist, öffne ich seine Aktentasche. Ein Haufen Papier. Und eine Videokamera. Die Kamera lässt sich an der Seite öffnen, darin steckt eine Kassette. Als ich die Klappe wieder zumache, beginnt die Kassette von selbst zu laufen, und der kleine Monitor leuchtet auf.
Auf dem Bildschirm montiert ein winziger Mann ein Hinterrad eines alten Pinto ab.
Das bin ich, beim Reifenwechseln. Radschrauben losschlagen, Reifen wechseln, einen nach dem anderen.
Sonst nichts. Von wegen Vögel beobachten. Es folgt ein bisschen Geflimmer, und dann wuchtet mein winziges Abbild mit nacktem Oberkörper eine volle Propangasflasche hoch. Ich trage sie um das Wohnmobil herum und tausche sie gegen eine leere aus.
Wenn Sarah mir ähnlich ist, nimmt sie in dieser Minute ein Brotmesser aus der Küchenschublade. Mit ein paar Vicodin in einem Glas Wasser könnte sie mich ausschalten. Jetzt begutachtet sie aus nächster Nähe, fast schon schielend, die gezackte Messerklinge, ob sie auch scharf genug ist. Es ist so leicht, ein Huhn zu zerteilen - eine Kehle aufzuschneiden, kann doch nicht viel schlimmer sein. Vielleicht legt sie mir ein altes Handtuch übers Gesicht, dann kann sie sich vorstellen, ich sei bloß ein Laib Brot. Sie schneidet ein Brot in Scheiben oder einen Hackbraten, bis sie auf eine Vene trifft, und weil das Herz noch weiterpumpt, spritzt eine Blutfontäne nach der anderen aus mir raus. Genau in dieser Minute legt sie das Messer in die Schublade zurück.
Vielleicht besitzt sie ein elektrisches Tranchiermesser, dass sie vor einer Ewigkeit zur Hochzeit geschenkt bekommen und noch niemals benutzt hat. Es liegt noch in der schick bedruckten Schachtel, zusammen mit der kleinen Broschüre, in der erklärt wird, wie man einen Truthahn zerlegt... einen Schinken entbeint... eine Hammelkeule in Scheiben schneidet.
Nichts darüber, wie man einen Privatdetektiv zerstückelt.
Ich gebe zu bedenken, vielleicht habe ich mich mit Absicht erwischen lassen.
Ich böser, gemeiner Mensch, der armen Sarah Broome und ihren Katzen nachzuspionieren.
Ich gebe zu bedenken, vielleicht hat sie sich erwischen lassen wollen. Wir alle brauchen einen Arzt, der uns aus der Geborgenheit des Mutterleibs reißt. Wir pissen und stöhnen, aber wir danken Gott, dass er uns aus dem Garten Eden vertreibt. Wir lieben unsere Plagen. Wir verehren unsere Feinde.
Für den Fall, dass Sarah Broome in der Nähe ist, schreie ich: »Bitte, machen Sie es sich nicht so schwer...«
Ein Scheißhaus kann man nicht von außen abschließen, also wickelte ich ein Seil um das ganze Ding, dreifach, und sehr stramm, und machte zum Schluss einen dreifachen Altweiberknoten. Drinnen ließ der Mann ächzend seine Ladung in das Loch plumpsen, auf dem er saß. Mit der Abwehr der Moskitos und Bremsen beschäftigt, die von unten aufschwärmten, bekam er gar nicht mit, wie ich den Knoten machte und mit seiner Aktentasche in den Wohnwagen ging, um sie mir genauer anzusehen.
In der Aktentasche finde ich einen Computerausdruck mit Namen und Adressen und den jeweiligen Behinderungen. Da sind Leute mit Sehnenscheidenentzündung. Leute mit unspezifischen Bindegewebsschwächen im Rücken. Mit chronischen Schmerzen in den Halswirbeln. Auf der Liste stehen auch die Versicherungen, die für die Behindertenrenten aufkommen. Und die in den einzelnen Fällen verschriebenen Schmerzmittel.
Und auf dieser Liste stehe auch ich: Eugene Denton.
In der Aktentasche, von einem Gummiband zusammengehalten, ein Päckchen Visitenkarten; daraufsteht: Lewis Lee Orleans, Privatermittler. Und eine Telefonnummer.
Als ich die Nummer anrufe, fangt das Handy in der Aktentasche zu piepen an.
Draußen schreit Lewis Lee Orleans, ich soll ihm helfen, die Scheißhaustür geht nicht auf.
Wenn es Sarah Broome dabei helfen würde, mich zu töten, würde ich ihr erzählen, dass der Detektiv geweint hat. Mit beiden Händen vorm Mund klang sein Schluchzen gedämpft, als er erzählte, dass er zu Hause eine Frau und drei Kinder habe. Kleine Kinder. Aber einen Ehering trug er nicht, und in seiner Brieftasche hatte er keine Bilder.
Die Leute sagen, man kann es spüren, wenn man beobachtet wird. Das sei dasselbe Gefühl, wie wenn einem Ameisen am Hosenbein hochkrabbeln. Ich kenne das nicht. Als
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