Die Kolonie
brauchte nur die Augen zu schließen, um einzuschlafen.
Da Cassandra nicht reden wollte, rückte die Polizei Mrs. Clark auf den Pelz und rechnete ihr vor, was eine solche Ermittlung den Steuerzahler koste. Die Polizisten sagten kopfschüttelnd, sie seien wütend, sie fühlten sich verraten: Da gäben sie sich alle Mühe, diesem Mädchen zu helfen, aber der Kleinen sei es ja offenbar schnurzegal, wie viel Leid und Schmerz sie ihrer Familie, ihrer Stadt und ihrer Regierung bereite. Alle Welt weine und bete für sie. Alle Welt hasse das Ungeheuer, das sie gequält habe, alle Welt wolle, dass dieses Schwein vor Gericht gestellt werde. Und nach ihren mühsamen Ermittlungen hätten auch sie ein Recht darauf. Ein Recht darauf, dass Cassandra in den Zeugenstand trete und unter Tränen schildere, wie das Ungeheuer ihr die Finger abgeschnitten hatte. Ihr die Brust aufgeritzt hatte. Ihr einen Holzpflock in den hungrigen Arsch getrieben hatte.
Und Cassandra Clark sah die vor ihrem Bett aufgereihten Polizisten nur an. Ihre Blicke, ihr ganzer Hass und ihre ganze Wut auf sie, Cassandra Clark, gerichtet, weil sie ihnen nichts anzubieten hatte. Keinen real existierenden Dämon. Keinen Teufel, den sie doch so dringend brauchten.
Der Staatsanwalt drohte, Cassandra wegen Behinderung der Justiz anzuklagen.
Ihre Mutter, Mrs. Clark, war auch unter diesen wütenden Gesichtern.
Cassandra erklärte ihnen lächelnd: »Versteht ihr nicht: Ihr seid konfliktsüchtig.« Sie sagt: »Das ist mein Happy End.« Sie sieht wieder nach den Vögeln draußen vorm Fenster und sagt: »Mir geht's fantastisch.«
Noch im Krankenhaus bat sie um einen Goldfisch. Von da an saß sie nur noch aufrecht im Bett, sah den Fisch im Glas seine Kreise ziehen und zeichnete ihn. Genau wie ihre Mutter jeden Abend eine Sendung nach der anderen im Fernsehen sah.
Als Mrs. Clark sie das letzte Mal besuchte, blickte Cassandra gerade lang genug von dem Fisch auf, um zu sagen: »Ich bin nicht mehr wie du.« Sie sagte: »Ich hab es nicht nötig, mit meinem Schmerz zu prahlen ...«
Danach besuchte Tess Clark sie nicht mehr.
19
Miss America kreischt in ihrer Garderobe.
Sie liegt auf dem Bett, die Röcke hochgezogen, die Strümpfe unten, und kreischt: »Diese Hexe darf mir nicht mein Baby wegnehmen...«
Neben dem Bett kniet Gräfin Weitblick, wischt ihr mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und sagt: »Das ist nicht das Baby. Noch nicht.«
Und wieder kreischt Miss America, jetzt aber ohne Worte.
Im Korridor vor der Garderobe riecht es nach Blut und Scheiße. Es riecht nach dem ersten Stuhlgang, den einer von uns seit Tagen, vielleicht seit Wochen gehabt hat.
Das ist Cora Reynolds. Eine Katze, reduziert auf einen Geruch. Auf Kot.
»Sie ist da, sie wartet«, keucht Miss America und beißt sich in die Faust. Der Schmerz reißt ihr die Knie an die Brust. Krämpfe werfen sie auf die Seite, in das Gewühl aus Decken und Laken.
»Sie wartet auf das Baby«, sagt Miss America. Ihr Kopfkissen ist dunkelgrau von Tränen.
»Das ist nicht das Baby«, sagt Gräfin Weitblick. Sie wringt Wasser aus einem Lappen und beugt sich über sie, um ihr den Schweiß abzuwischen. Sie sagt: »Ich will dir was erzählen.«
Sie wischt Miss Americas Gesicht mit Wasser ab und sagt: »Hast du gewusst, dass Marilyn Monroe zwei Fehlgeburten hatte?«
Und ein paar Sekunden lang hört Miss America schweigend zu.
Wir alle sitzen in unseren Zimmern, lauschen und schreiben mit. Unsere Ohren und Diktiergeräte an die Heizungsrohre gepresst.
Auf dem Korridor schreit Direktorin Dementi in ihrer Rot-Kreuz-Schwesterntracht: »Sollen wir anfangen, Wasser heiß zu machen?«
Und Gräfin Weitblick kniet neben dem Bett und sagt: »Bitte.«
Direktorin Dementi schiebt ihren Kopf mit der weißen Schwesternhaube zur Tür hinein und sagt: »Der Killerkoch möchte wissen... wann er die Möhren reintun soll?«
Miss America kreischt.
Und Gräfin Weitblick schreit: »Falls das ein Witz sein soll, ist das nicht sehr komisch.«
Die unsichtbare Möhre, die Geschichte, die von Sankt Prolaps übrig geblieben ist.
Und auf dem Korridor schreit der Killerkoch: »Krieg dich ein. Natürlich war das ein Witz.« Er sagt: »Wir haben überhaupt keine Möhren oder Kartoffeln...«
Kurzsichtig
Ein Gedicht über Gräfin Weitblick
»Ein GPS-Sender«, sagt Gräfin Weitblick und
schüttelt ihr Plastikarmband.
Den muss sie tragen, weil das zu ihren Bewährungsauflagen
gehört.
Gräfin Weitblick auf der Bühne, ins Gespinst
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