Die Kolonie
hatte: Klausur für Schriftsteller. Drei Monate aussteigen.
Mrs. Clark sagt: »Ich weiß, dass Mr. Whittier das schon öfter gemacht hat.«
Und voriges Mal war Cassandra hier in diesem Haus eingesperrt.
Kinder, sagt sie. Wenn sie klein sind, glauben sie einem alles, was man ihnen von der Welt erzählt. Als Mutter bist du für dein Kind der Weltalmanach und die Enzyklopädie, das Wörterbuch und die Bibel, alles in einem Band. Aber irgendwann überschreiten sie eine magische Altersgrenze, und plötzlich bist du das Gegenteil. Dann bist du für sie entweder ein Lügner oder ein Idiot oder ein Schuft.
Wir alle notieren das hastig mit, und unsere Bleistifte machen einen solchen Lärm auf dem Papier, dass man kaum ein Wort verstehen kann. Wir alle schreiben: entweder ein Lügner oder ein Idiot.
Und aus Graf Schandmauls Diktiergerät hören wir: »... oder ein Schuft.«
Mrs. Clark weiß eigentlich nur, dass man Cassandra, nachdem sie drei Monate lang verschwunden war, gefunden hat. Die Polizei hat Cassandra gefunden.
Sie kniet neben Miss Americas Bett und sagt: »Ich habe mich Mr. Whittier als Hilfe zur Verfügung gestellt, um herauszufinden, was mit meinem Kind geschehen ist...« Mrs. Clark sagt: »Ich wollte es wissen, und sie hat es mir nie erzählt...«
Vorzeigekind
Eine Erzählung von Mrs. Clark
Drei Monate nach ihrem Verschwinden war Cassandra Clark plötzlich wieder da. Ein Pendler, der frühmorgens auf dem Highway in die Stadt fuhr, sah auf dem Seitenstreifen ein halb nacktes Mädchen, das sich hinkend die Straße entlangschleppte. Wie es aussah, trug sie einen dunklen Lendenschurz, dunkle Handschuhe, und Schuhe. Anscheinend hatte sie einen Latz oder ein schwarzes Tuch um den Hals gebunden, um ihre Brust zu bedecken. Als der Fahrer angehalten und die Polizei gerufen hatte, war im jetzt hellen Sonnenlicht deutlich zu erkennen, dass das Mädchen tatsächlich unbekleidet war.
Ihre Schuhe und Handschuhe, ihr Lendenschurz, ihr Latz, das alles war nur getrocknetes Blut, dickes schwarzes Blut, auf dem sich Myriaden schwarzer Fliegen tummelten. Die Fliegen bedeckten sie wie ein dicker Pelz.
Der Kopf des Mädchens war mit Schrammen und Schorf übersät. Hinter den Ohren und an anderen Stellen des sonst kahlen Schädels sprossen struppige Haarbüschel. Sie hinkte, weil an ihrem rechten Fuß zwei kleine Zehen fehlten.
Als der Latz, diese Schicht aus getrocknetem Blut auf ihrer Brust, dieser Pelz aus Fliegen, von den Ärzten in der Notaufnahme des Krankenhauses mit Alkohol abgewischt wurde, entdeckten sie, eingeritzt in die Haut oberhalb ihrer Brust, ein Tic-Täc-Toe-Spiel. Der Spieler mit den X hatte gewonnen.
Als man ihre Hände reinigte, stellte man fest, dass beide kleinen Finger fehlten. An den übrigen Fingern waren die Nägel herausgerissen, die Fingerkuppen dunkelrot und dick angeschwollen.
Die Haut unter dem angetrockneten Blut war bläulich weiß. Der Kinnknochen, die Wangenknochen und das Nasenbein standen weit aus ihrem Gesicht hervor. An den Schläfen und oberhalb des Kiefers war die Haut tief eingefallen.
In der Notaufnahme beugte sich Mrs. Clark über das verchromte Geländer des Betts, in dem ihre Tochter lag, und sagte: »Baby, mein geliebtes Kind... wer hat dir das angetan?«
Cassandra besah sich lachend die Nadeln in ihren Armen, die Plastikschläuche, die in ihren Venen steckten, und sagte: »Die Ärzte.«
Nein, sagte Mrs. Clark, wer ihr die Finger abgeschnitten habe.
Und Cassandra sah ihre Mutter an und sagte: »Du glaubst, ich lasse mir das von jemand anderem antun?« Sie hörte auf zu lachen und sagte: »Das habe ich mir selbst angetan.« Und das war das letzte Mal, dass Cassandra jemals in ihrem Leben gelacht hatte.
Die Polizei, sagte Mrs. Clark, hat Beweise gefunden. Holzsplitter, dünn wie Nadeln, in Cassandras Scheide. In ihrem Anus. Die Gerichtsmediziner holten Glassplitter aus den Schnittwunden an ihrer Brust und ihren Armen. Mrs. Clark sagte ihrer Tochter, sie dürfe nicht schweigen.
Die Polizei müsse jede Einzelheit erfahren, an die sie sich erinnern könne.
Die Polizei sagte, wer auch immer das getan habe, werde sich ein neues Opfer suchen. Cassandra müsse sich ihrer Angst stellen und ihnen helfen, sonst werde man den Täter niemals finden.
Durchs Fenster schien die Sonne, und Cassandra saß im Bett und sah draußen die Vögel am blauen Himmel hin und her flitzen.
Die Finger in dicken weißen Verbänden, die Brust mit Bandagen gepolstert, bewegte sie ihre Bleistifthand
Weitere Kostenlose Bücher