Die Kolonie
Beschädigt. GEKAUFT! «
Auf einem anderen Schild steht: »Wer Ware beschädigt... MUSS SIE BEZAHLEN! «
Die Überwachungskameras halten Claire nicht davon ab, diesen Laden als spiritistischen Streichelzoo zu betrachten. Als ein Museum, wo man jedes Ausstellungsstück anfassen darf.
Claire behauptet, alles, was jemals in einem Spiegel zu sehen war, ist immer noch da. Alles, was sich jemals in einer Christbaumkugel oder auf einem Silbertablett gespiegelt hat, kann sie immer noch sehen, behauptet sie. Alles Glänzende ist ein spiritistisches Fotoalbum oder ein Heimkino, in dem alles zu sehen ist, was jemals in seiner Nähe war. In einem Antiquitätengeschäft kann Claire den ganzen Nachmittag alle möglichen Gegenstände betasten und darin lesen, wie andere Leute Bücher lesen. Sich die Vergangenheit ansehen, die dort noch immer gespiegelt wird.
»Das ist eine Wissenschaft«, sagt Gräfin Weitblick. »Psychometrie.«
Claire sagt zum Beispiel, du solltest dieses Tranchiermesser mit Silbergriff lieber nicht in die Hand nehmen, weil sie in der Klinge das Spiegelbild eines schreienden Mordopfers sehen kann. Sie sieht das Blut am Handschuh des Polizisten, der dem Toten das Messer aus der Brust zieht. Claire sieht die dunkle Asservatenkammer. Dann einen holzgetäfelten Gerichtssaal. Einen Richter in schwarzer Robe. Dann warme Seifenlauge, in der das Messer lange gereinigt wird. Dann die Versteigerung. Auch die ist in der Klinge noch zu sehen. Als Nächstes dann die Gegenwart, du selbst hier in dem Antiquitätenladen, kurz davor, das Messer in die Hand zu nehmen, um es vielleicht zu kaufen. Du findest es einfach nur schön. Weil du seine Vergangenheit nicht kennst.
»Alles Schöne«, sagt Ciaire, »steht nur zum Verkauf, weil niemand es haben will.«
Und dass niemand etwas Schönes und Glänzendes und Altes haben will, dafür gibt es einen schrecklichen Grund.
Bei den vielen Kameras, die sie aus allen Winkeln beobachten, kann Claire dir jede Menge zum Thema Überwachung erzählen.
Um sich ihren Mantel wieder aushändigen zu lassen, gab sie dem Alten an der Kasse die drei halben Spielkarten zurück. Das Herz-As. Die Kreuz-Neun. Die Pik-Drei.
Der Alte hinter der Kasse fragte: »Wollten Sie was Bestimmtes kaufen?« Er reicht ihr die Handtasche über den Ladentisch und zeigt mit dem Kinn auf die Batterie kleiner Monitore. Beweis, dass er beobachtet hatte, wie sie alles angefasst hatte.
In dem Augenblick sieht sie es: In einer Vitrine hinter dem Alten, in einem Glasschränkchen voller Salz- und Pfefferstreuer und Porzellanfingerhüte und jeder Menge Schrottschmuck, mitten in all diesem Kram steht ein Glas mit einer schmutzig weißen Flüssigkeit. Und in diesem Nebel schwamm eine winzige Faust, vier geballte Finger, die von innen ans Glas stießen.
Claire zeigt an dem Alten vorbei auf die Vitrine und sagt: »Was ist das?«
Der Mann dreht sich um. Nimmt einen Schlüsselbund von einem Haken hinter dem Ladentisch und schließt das Schränkchen auf. Er greift hinein, greift in diesen ganzen Kram, und sagt: »Was glauben Sie denn, was das ist?«
Claire hat keine Ahnung. Sie weiß nur, dass eine unglaubliche Energie davon ausgeht.
Als der Alte den Glasbehälter vor sie hinstellt, schwappt die schlierig weiße Flüssigkeit darin. Der weiße Plastikdeckel ist zugeschraubt und zusätzlich mit rotweißem Klebeband gesichert. Der Alte legt einen Ellbogen auf den Ladentisch und hält ihr das Gefäß dicht vors Gesicht. Aus dem Handgelenk heraus dreht er das Glas so lange hin und her, bis sie ein kleines dunkles Auge erkennt. Ein Auge und den Umriss einer kleinen Nase.
Dann ist das Auge wieder in der trüben Flüssigkeit verschwunden.
»Raten Sie mal«, sagt der Alte. Er sagt: »Da kommen Sie nie drauf.« Er hebt das Glas, zeigt ihr die Unterseite, und da sieht sie ein winziges graues Hinterteil.
Der Alte sagt: »Sie geben auf?«
Er stellt das Glas auf den Ladentisch, und auf dem weißen Plastikdeckel klebt ein Etikett. Darauf steht in schwarzer Tinte: »Cedars Sinai Hospital«. Darunter noch etwas in roter Tinte, aber verschmiert. Ein paar Wörter. Ein Datum vielleicht. Nicht mehr lesbar.
Claire schüttelt den Kopf.
Im spiegelnden Glas des Behälters kann sie Jahre, Jahrzehnte in die Vergangenheit sehen: Ein grün gekachelter Raum.
Eine Frau mit gespreizten Beinen, der Körper unter einem blauen Tuch, die nackten Füße hängen in Schlingen. Über einer Sauerstoffmaske sieht Claire das weißblonde Haar der Frau, an den
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