Die Kolonie
ganz leicht. Sicher, man könnte diese Leute töten - um das Gemeinwohl zu schützen -, aber immerhin sind diese Leute ja unschuldig. Also tut die Regierung so, als könnte sie ein Heilmittel finden. Sie hält die Leute hier eingeschlossen, nimmt wöchentlich Blutproben, führt Untersuchungen durch und so weiter. Einmal die Woche gibt es frisches Bettzeug, und dreimal täglich eine anständige Mahlzeit.
Jeder Tropfen Pisse, den sie produzieren, wird von der Regierung mit Ozon und radioaktiver Bestrahlung sterilisiert. Die Luft, die sie ausatmen, wird gefiltert und mit ultraviolettem Licht gereinigt, bevor sie wieder in die Außenwelt gelangen darf. Die Bewohner von Columbia Island bekommen niemals eine Erkältung. Sie kommen mit keinem in Berührung, der sie anstecken könnte. Abgesehen davon, dass jeder von ihnen seinen eigenen, persönlichen, potentiell die Menschheit ausrottenden Erreger in sich trägt, sind das die gesündesten Leute, die man jemals nicht kennen lernen möchte.
Und die Marine hat dafür zu sorgen, dass es nie dazu kommt.
Das alles weiß ich hauptsächlich von Shirlee, meiner Nachtschwester. Shirlee sagt, wer hier eingeschlossen ist, kann sich eigentlich kaum beklagen. Sie sagt, die Leute in der Außenwelt müssen täglich den ganzen Tag arbeiten und bekommen trotzdem nicht die Hälfte von dem, was sie gern haben möchten.
Jetzt rät mir Shirlee, ich soll mir Lockenwickler kommen lassen. Um mich ein bisschen hübsch zu machen. Für meinen neuen künftigen Bräutigam. Diesen Neuen, den Keegan-Typ1-Virusträger.
Hier geht man einfach an den Computer und gibt alles ein, was man gerne haben möchte. Wenn der Etat es zulässt, bekommt man es. Die eigentliche Komplikation besteht in der Menge. Bücher. CDs. DVDs. Das kriegt man fuderweise, aber wenn man die Sachen einmal berührt hat, sind sie toxisch. Das Problem besteht darin, das alles zu steriler Asche zu verbrennen.
Um das zu umgehen, lässt Shirlee dich um Sachen bitten, die sie selbst haben möchte. Shirlee ist vernarrt in Elvis Presley. In Buddy Holly. Ich setze diesen Scheiß auf meine Wunschliste, und Shirlee sackt die CDs dann ein. Keine Umstände. Kein Gewese. Keine Riesensammlung Giftmüll im Zimmer.
Die Leute von der Marine sagen, die Kosten für Bücher mit Gedichten können sie nicht übernehmen. Wenn irgendein Überwachungsausschuss dahinter käme, dass sie Whitmans Grashalme finanziert hätten, wäre die Kacke am Dampfen. Deshalb bezahlt Shirlee meine Bücher aus ihrer eigenen Tasche. Und ich gebe ihr dafür Elvis-CDs, die ich bestelle, aber gar nicht haben will. Shirlee will mir immer von aktuellen Ereignissen erzählen, zum Beispiel, wer gerade welches Land bombardiert oder wie der neue Sänger heißt, mit dem alle Mädchen ins Bett wollen.
Ich will aber lieber die Sachen wissen, die Shirlee mir nicht erzählen kann. Alles, was ich fast schon vergessen habe - zum Beispiel, wie sich Regen auf der Haut anfühlt. Oder Sachen, die ich nie gewusst habe - zum Beispiel, was ein Zungenkuss ist.
Wir unterhalten uns über die Gegensprechanlage. Wenn man etwas sagt, muss man auf einen Knopfdrücken, und wenn man den loslässt, kann der andere etwas sagen. Wenn ich mir Shirlees Gesicht vorzustellen versuche, sehe ich immer nur den kleinen Lautsprecher an der Wand neben dem Bett.
Shirlee fragt immerzu, wie ich überhaupt hierher geraten bin.
Und ich sage: Das war die großartige Idee meines Vaters.
Shirlee drängt mich ständig, ich soll mir die Beine rasieren. Eine Sonnenbank bestellen. Auf meinem Heimtrainer tausend Meilen auf der Stelle fahren. Ihre Stimme im Lautsprecher sagt: »Du kannst sie nur einmal verlieren.«
Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und immer noch Jungfrau. Und bis heute sah es sehr danach aus, als sollte ich das für immer bleiben.
Trotzdem lebe ich nicht hinterm Mond. Wir können hier fernsehen. Im Internet surfen. Natürlich dürfen wir keine Nachrichten nach außerhalb verschicken. Wir können uns Chats ansehen, mitlesen, was sich da abspielt, nur selbst etwas dazu beitragen dürfen wir nicht. Wir können alle möglichen Anzeigen lesen, nur darauf antworten dürfen wir nicht. Nein, der Regierung liegt viel daran, dass wir ein Staatsgeheimnis bleiben.
Und Shirlee sagt aus dem Lautsprecher: »Wie hat dein Alter dich hierher gebracht?«
Ich war noch auf der Highschool, in der Abschlussklasse, als plötzlich alle möglichen Leute starben, die ich kannte. Sie starben genau so, wie zehn Jahre zuvor meine
Weitere Kostenlose Bücher