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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Verwandten gestorben waren.
    Eines Tages bringt Miss Frasure, meine Englischlehrerin, einen Aufsatz von mir mit und erzählt der ganzen Klasse, wie gut der ist. Am nächsten Tag kommt sie mit Sonnenbrille in den Unterricht. Weil das Licht ihren Augen wehtut, sagt sie. Sie kaut eine Aspirin mit Orangengeschmack, wie sie normalerweise von der Schulschwester an Mädchen ausgegeben wird, die ihre Tage haben. Statt zu unterrichten, dunkelt sie das Klassenzimmer ab und zeigt uns den Film Großwild ausweiden leicht gemacht. Der Film ist nicht mal in Farbe. Die einzige Spule, die im Medienraum noch zu finden war.
    Danach wird Miss Frasure nie mehr gesehen.
    Am nächsten Tag lässt sich die Hälfte aller Kinder, die ich kenne, von der Schulschwester eine Aspirin mit Orangengeschmack geben. Englisch fallt aus, und man schickt uns für die eine Stunde zum Lesen in die Schulbücherei. Die Hälfte der Schüler sagt, irgendwas stimme mit ihren Augen nicht, sie könnten kaum die Buchstaben erkennen. Ich lasse mich hinter einem Regal von einem Jungen namens Raymon auf den Mund küssen. Solange er sagt, wie schön ich bin, darf er seine Hand unter meiner Bluse behalten.
    Am nächsten Tag kommt Raymon nicht zur Schule.
    Am dritten Tag geht meine Großmutter ins Krankenhaus, in die Notaufnahme, und sagt, sie hat so schlimme Kopfschmerzen, dass alles, was sie sieht, einen schwarzen Rand hat. Sie wird blind. Ich schwänze die Schule, gehe ins Krankenhaus und setze mich in den Wärteraum. Nehme mir ein National Geographic. Ich lese; das Heft ist schon ganz weich, so alt und abgenutzt ist es. Ich sitze auf einem Plastikstuhl, um mich herum wimmelt es von schreienden Babys und alten Leuten. Plötzlich schiebt ein Mann eine Rolltrage herein. Er trägt einen weißen Overall und eine OP-Maske.
    Der Mann hat kurz geschorene Haare, und durch seine Atemschutzmaske sagt er den Leuten, sie sollen alle den Raum verlassen. Dieser Teil des Krankenhauses müsse evakuiert werden, sagt er. Als ich aufstehe und frage, wie es meiner Oma geht, packt der Mann mich am Arm. Der Mann trägt Latexhandschuhe. Während die alten Leute und die schreienden Babys sich an der Rolltrage vorbei auf den Korridor drängen, hält mich der Mann im Wartezimmer fest und fragt, ob ich Lisa Noonan bin, siebzehn Jahre alt, zur Zeit wohnhaft West Crestwood Drive 3438.
    Der Mann nimmt einen Plastiksack von der Trage und reißt ihn auf. Darin ist ein blauer Overall aus Plastik und Nylon mit Reißverschlüssen vorne und hinten.
    Ich frage noch einmal nach meiner Oma.
    Und der Mann mit der Rolltrage schüttelt den blauen Overall auseinander. Er sagt, ich soll das anziehen, und dann gehen wir Oma auf der Intensivstation besuchen. Der Anzug, sagt er, dient dem Schutz meiner Großmutter. Er hält ihn an den Schultern, damit ich hineinsteigen kann. Ein solcher Schutzanzug besteht aus drei Plastikschichten, die jeweils mit einem Reißverschluss zugemacht werden. Luftdicht verbunden mit dem Anzug sind Schuhe und Handschuhe und eine Kapuze, die vorne mit einem Fenster versehen ist. Der äußere Reißverschluss befindet sich am Rücken, und sobald der hochgezogen ist, kommt man aus dem Anzug nicht mehr raus.
    Als ich aus meinen Tennisschuhen steige, hebt sie der Mann mit seinen Latexhandschuhen auf und verschließt sie in einer Plastiktüte.
    In der Schule gab es Gerüchte, Miss Frasure habe einen Hirntumor. Der sei auf einer Computertomographie ihres Kopfs zu erkennen, groß wie eine Zitrone, gefüllt mit einer pissgelben Flüssigkeit. Den Gerüchten zufolge wuchs der Tumor noch immer.
    Bevor ich die Kapuze zuziehe, gibt mir der Mann eine kleine blaue Pille und sagt, die soll ich unter der Zunge zergehen lassen.
    Die Pille ist süß. So süß, dass mir die Spucke im Mund zusammenläuft und ich schlucken muss.
    Der Mann sagt, ich soll mich auf die Rolltrage legen. Den Kopf auf das kleine weiße Papierkissen. Dann könnten wir meine Oma besuchen.
    Ich frage, ob sie wieder gesund wird. Meine Oma hat mich großgezogen, seit ich acht war. Sie ist die Mutter meiner Mutter, und nachdem meine Eltern gestorben waren, fuhr sie durchs ganze Land, um mich abzuholen. Und jetzt lag ich also auf dieser Trage und wurde von dem Mann durch den Korridor geschoben. Überall standen Türen offen, und die Zimmer dahinter waren leer, die Betten aufgeschlagen, so dass man die Abdrücke der Kranken sehen konnte, die da gelegen hatten. In manchen Zimmern lief noch der Fernseher. Neben manchen Betten standen noch

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