Die Kolonie
Shirlees Job gehört es, die Blutkühe gelegentlich zum Sport ins Freie zu treiben.
Alle paar Tage lässt das Personal die Kühe Schutzanzüge anziehen. Wenn man in diesem Anzug steckt, riecht man nichts als Latex. Pflückt man eine Blume oder legt sich ins Gras, spürt man nichts als Latex. In der versiegelten Kapuze hört man nichts als seinen eigenen Atem. Die anderen Bewohner spielen Frisbee und wissen immer genau, wie viele Minuten sie noch haben, bis Shirlee sie wieder ins Haus treibt. Sie denken ständig an die Scharfschützen, die jeden Bewohner hier erschießen, der auf die Idee kommt, ins Wasser zu waten und die Flucht zu ergreifen. In so einem Schutzanzug mit seinem in sich geschlossenen Sauerstoffkreislauf könnte man auf dem schlammigen Grund des Puget Sound nämlich ohne weiteres bis nach Seattle marschieren. Hoch über einem die dunkelblauen Umrisse von Schiffen.
Falls ihr euch fragt, wie ich da rausgekommen bin ...
»Von dieser langen Wanderung unter Wasser«, sagt Miss Rotz, »haben sich meine Nebenhöhlen nie mehr erholt.« Und sie wischt sich mit einem Ärmel die Nase.
Wenn sie da draußen auf dem Rasen in ihren weiten blauen Schutzanzügen Frisbee spielten, sahen sie aus wie ein Haufen Stofftiere. Blau von Kopf bis Fuß. Schwitzten in den Nylon- und Latexschichten. Liefen der Scheibe nach, immer im Visier irgendeines Scharfschützen der Marine. Das hört sich nicht sehr lustig an, aber wenn man wieder ins Haus musste, wieder allein in sein Zimmer zurück, hätte man heulen können.
Eine Bewohnerin hier hat grüne Augen. Einer hat braune Augen. Wenn sie die Schutzanzüge anhaben, kann man nur ihre Augen sehen. Der mit den braunen Augen, sagt Shirlee, ist der Keegan-Typ-1-Träger.
Der Neue mit dem phantastischen Schwanz. Sie hat ihn durch den Spiegel gesehen.
Shirlee sagt, wenn ich das nächste Mal mit Dr. Schumacher spreche, soll ich ein Fortpflanzungsprojekt vorschlagen. Um zu erforschen, ob wir eine Generation von Babys zeugen können, die gegen Keegan Typ 1 immun sind. Eher beängstigend wäre die andere Möglichkeit, dass wir Träger verschiedener Stämme des Virus sind und uns bloß gegenseitig umbringen. Oder wir bekommen ein gesundes Baby... und töten es mit unseren Viren.
»Immer mit der Ruhe«, sagt Shirlee. »Denk nicht an Babys. Denk nicht ans Sterben.« Wichtig ist nur, sagt sie, dass ich endlich defloriert werde.
Dieser Junge und ich, zusammen in einem Zimmer eingeschlossen. Wir beide noch Jungfrau. Die Videokamera hinter dem Spiegel. Die Hoffnung des Personals, dass wir ein Heilmittel erzeugen, das die Regierung patentieren lassen kann. Die gerissenen Leute der Pharmaindustrie. Aber, ja, ein Heilmittel wäre nicht schlecht.
Und Sex wäre auch nicht schlecht.
Shirlee sagt, das Waisenhaus könnte ruhig mal einen Tanzabend für die Bewohner organisieren, aber die Vorstellung, wie diese weiten blauen Schutzanzüge sich in den Armen halten und zu Popmusik auf einer Tanzfläche herumschwanken... nein, das will wirklich niemand sehen.
Wenn ich Dr. Schumacher sehe, erzähle ich ihm praktisch nie was von mir. Schließlich ist die Zahl meiner Erinnerungen begrenzt, und ich will nicht, dass sie sich abnutzen. In meinen schönsten Erinnerungen rette ich die Welt vor bösen Außerirdischen oder fliehe mit einem Düsenboot vor sexy russischen Spionen, aber diese Erinnerungen sind natürlich nicht echt. Das waren Filme. Dass die Frau, die das alles getan hat, ein Filmstar war, habe ich verdrängt.
Bei mir an der Wand hängt ein Schild. Darauf steht: Beschäftigt = Glücklich.
Shirlee sagt, dieses Schild hängt bei allen Bewohnern. Die Glühbirnen in allen Zimmern sind Vollspektrum-Birnen; sie imitieren das natürliche Sonnenlicht, regen die Vitamin-D-Produktion der Haut an und verbessern die Stimmung der Bewohner. Shirlee sagt, offiziell werden die Zimmer als »Wohnsuite« bezeichnet. Meins zum Beispiel ist »Wohnsuite 6-B«. In den Akten werde ich offiziell als Bewohner 6-B geführt.
Untersucht wird hier anhand der gesammelten Bewohnerdaten auch, ob wir in isolierten, autarken Weltraumkolonien vielleicht besser aufgehoben wären, sagt Shirlee.
Ja, an manchen Tagen hat Shirlee sehr viel Nützliches mitzuteilen.
»Stell dir vor«, sagt Shirlee, »du lebst jetzt schon als. Astronautin in einem Hotel auf einem Planeten nur sechs Meilen südwestlich von Seattle.«
Shirlees Stimme abends im Lautsprecher. Sie fragt nach meinem Vater, wie mein Vater mich hierher geschafft hat. Dann
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