Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
Vom Netzwerk:
National Gallery: Terrys Verbrechen war immer dasselbe. Die Leute konnten sich nur nicht einigen, wie sie es nennen sollten.
    Keinen dieser Richter sollte man mit dem Ehrenwerten Lester G. Myers vom Bezirksgericht Los Angeles verwechseln; der Mann war Kunstsammler und ein absolut netter Kerl. Bei dem Kunstkritiker handelt es sich nicht um Tannity Brewster, den Autor und Experten in kulturellen Dingen. Und immer mit der Ruhe: Der Galeriebesitzer ist nicht Dennis Bradshaw, dessen Pell Meli Gallery in die Schlagzeilen kam, weil dort unglücklicherweise ein paar Leute eine Kugel in den Rücken bekommen. Ab und zu.
    Nein, jede Ähnlichkeit zwischen diesen Figuren und irgendwelchen Lebenden oder Toten wäre rein zufällig.
    Was hier passiert, ist frei erfunden. Niemand ist jemand Bestimmtes, außer Mr. Terry Fletcher.
    Macht euch nur immer klar, das hier ist eine Erzählung. Nichts davon ist real.
    Die Grundidee stammt aus England, wo Kunststudenten ins Postamt gehen und sich mit kostenlosen Adressaufklebern für Pakete eindecken. Diese Aufkleber gibt es dort auf der Post stapelweise; sie sind so groß wie eine Hand mit ausgestreckten, aber nicht gespreizten Fingern. Man kann sie gut in der Handfläche verbergen. Die Rückseite ist mit Wachspapier versehen, das man abziehen kann. Die Klebschicht darunter ist von der Art, die überall klebt, und zwar ewig.
    Das war das eigentlich Reizvolle daran. Junge Künstler - namenlose Künstler - saßen in ihrem Atelier und malten eine perfekte Miniatur. Oder grundierten den Aufkleber mit weißer Farbe und zeichneten eine Kohleskizze darauf.
    Dann zogen sie los, den Aufkleber in der Hand, um ihre eigene kleine Ausstellung zu arrangieren. In Kneipen. In Eisenbahnwaggons. In Taxis, auf der Rückbank. Und dort »hing« ihr Werk dann länger, als man meinen sollte.
    Die Post ließ die Aufkleber aus so billigem Papier herstellen, dass man es unmöglich abziehen konnte. Das Papier ließ sich am Rand in winzigen Fetzen entfernen, aber der Leim blieb. Und auf dem freigelegten Leim, klumpig und gelb wie Rotz, sammelten sich Staub und Rauch zu einer am Ende schwarzen Schmiere, die noch viel schlimmer war als das ursprüngliche kleine Kunststudentenbildchen. Die Leute fanden jedes Kunstwerk besser als den hässlichen Leim, den es zurückließ.
    Also ließen sie die Kunstwerke hängen. In Aufzügen und Toiletten. In Beichtstühlen und Ankleidekabinen. Und viele dieser Orte konnten ein wenig Schmuck durch Kunst vertragen. Und viele Maler waren einfach froh, dass ihr Werk in der Öffentlichkeit zu sehen war. Für alle Ewigkeit.
    Aber einem Amerikaner blieb es vorbehalten, die Sache zu weit zu treiben. Terry Fletcher hatte die großartige Idee, als er in der Schlange stand, um sich die Mona Lisa anzusehen. Auch als er näher heranrückte, wurde das Bild nicht größer. Manche seiner Kunstbücher waren größer. Das berühmteste Gemälde der Welt, kleiner als ein Sofakissen.
    Überall sonst wäre es ein Leichtes, sich das Ding unter den Mantel zu schieben und die Arme davor zu verschränken. Es zu stehlen.
    Je näher die Schlange auf das Gemälde zukroch, desto weniger sah es auch wie ein Wunder aus. Das Meisterwerk des Leonardo da Vinci, nicht gerade etwas, wofür man sich einen ganzen Tag lang in Paris die Beine in den Bauch stehen möchte.
    Es war die gleiche Enttäuschung, die Terry Fletcher empfand, als er die uralte Felszeichnung des tanzenden Flötenspielers Kokopelli auf Krawatten und Hundenäpfen entdeckte. Auf Badematten und Klodeckelbezügen. Als er schließlich nach New Mexico reiste und sich das dort in den Felsen geritzte Original ansah, war sein erster Gedanke: Wie banal...
    All diese kümmerlichen alten Meisterwerke mit ihrem aufgeblähten Ruhm und all diese britischen Adressaufkleber sagten ihm, dass er es besser konnte. Er konnte bessere Bilder malen und sie, gerahmt unterm Mantel versteckt, in Museen hineinschmuggeln. Zu groß durften sie nicht sein, aber wenn er sie auf der Rückseite mit doppelt beschichtetem Klebeband versah, konnte er sie im richtigen Augenblick einfach irgendwo an die Wand kleben. Und alle Welt würde sie sehen, zwischen Rubens und Picasso... Originalwerke von Terry Fletcher.
    In der Täte Gallery, unmittelbar neben Turners Hannibal und sein Heer überqueren die Alpen, wäre Terrys Mutter zu sehen. Ein Porträt, auf dem sie sich an einem rotweiß gestreiften Geschirrtuch die Hände trocknet. Im Prado, direkt neben Veläzquez' Porträt der Infanta, würde seine

Weitere Kostenlose Bücher