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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Scheißsonnenaufgang...!«
    Dann die Faust. Bumm.
    Vor unseren Zimmern, auf dem Flur vor unseren Garderoben hinter der Bühne, ist es dunkel. Bühne und Zuschauersaal dahinter sind dunkel. Stockdunkel, von dem Geisterlicht einmal abgesehen.
    Wir stehen auf, raffen ein paar Kleider zusammen, ohne zu wissen, ob wir eine Stunde oder eine Nacht lang geschlafen haben.
    Das Geisterlicht ist eine nackte Glühbirne auf einem Ständer in der Mitte der Bühne. Der Tradition nach soll es Gespenster davon abhalten, in das Theater einzudringen, wenn es leer und dunkel ist.
    In vorelektrischen Zeiten, erklärte Mr. Whittier, diente das Geisterlicht als Druckausgleichsventil. Es verhinderte, dass das Haus durch zu hohen Druck in den Gasleitungen explodierte.
    Wie auch immer, das Geisterlicht sollte jedenfalls Glück bringen.
    Bis zu diesem Morgen.
    Erst weckt uns das Geschrei. Dann kommt Gestank dazu.
    Es ist der entzückende Duft des schwarzen Schmiers, auf den Lady Tramp stoßen mag, wenn sie am Grund eines Müllcontainers wühlt. Der Geruch, der dem klebrig verdreckten Maul eines Müllwagens entströmt. Der Geruch von alter Hundescheiße und vergammeltem Fleisch. Gekaut, verdaut und kompakt zusammengepresst. Der Geruch von alten Kartoffeln, die unter der Küchenspüle zu einer schwarzen Masse zerfließen.
    Wir halten die Luft an und tasten uns von unseren Türen durch den dunklen Korridor, durch die Finsternis dorthin, von wo die Schreie kommen.
    Tag und Nacht sind hier Meinungssache. Bis jetzt haben wir da Mr. Whittier vertraut. Ohne ihn können wir nur mutmaßen, ob gerade Tag oder Nacht ist. Von außen dringt kein Licht in das Gebäude. Kein Telefon. Kein Geräusch.
    Schwester Vigilante hämmert an die Tür und schreit: »Sonnenaufgang war vor acht Minuten!«
    Nein, ein Theater ist so gebaut, dass die Außenwelt draußen bleibt und die Schauspieler drinnen eine eigene Welt erschaffen können. Die Mauern bestehen aus zwei Schichten Beton, mit Sägemehl dazwischen. Keine Polizeisirene, kein U-Bahn-Rumpeln kann einen gespielten Tod auf der Bühne stören. Keine Autoalarmanlage, kein Presslufthammer kann einen romantischen Kuss zur Lachnummer machen.
    Sonnenuntergang ist, wenn Mr. Whittier auf die Uhr schaut und Gute Nacht sagt. Er begibt sich dann in den Projektionsraum und legt die Schalter um: Und überall geht das Licht aus, im Vorraum, im Foyer, in den Salons, in den Galerien und Sitzecken. Die Dunkelheit treibt uns in den Zuschauersaal. Dämmerung senkt sich herab, Raum für Raum, bis nur noch in den Garderoben hinter der Bühne Licht ist. Dort schlafen wir. Jeder Raum verfügt über ein Bett sowie ein Bad mit Dusche und Toilette. Platz genug für eine Person und einen Koffer. Beziehungsweise einen Weidenkorb. Oder einen Pappkarton.
    Morgen ist, wenn wir Mr. Whittier auf dem Gang vor unseren Zimmern Guten Morgen rufen hören. Ein neuer Tag ist, wenn die Lichter wieder angehen. Bis zu diesem Morgen.
    Schwester Vigilante schreit: »Du verstößt hier gegen ein Naturgesetz ...«
    Der Herzog der Vandalen sagt, so wie wir hier eingesperrt sind, ohne Fenster, ohne Tageslicht, könnten wir uns ebenso gut in einer italienischen Renaissance-Raumstation befinden. Oder tief unter Wasser in einem Maya-U-Boot. Oder in einem französischen Louis-quinze-Kohlenbergwerk oder -Luftschutzbunker, sagt der Herzog.
    Nur Zentimeter entfernt von Millionen von Leuten, die da draußen herumlaufen und arbeiten und Hotdogs essen, mitten in irgendeiner Stadt sind wir von allem abgeschnitten.
    Was hier wie Fenster aussieht, mit Samt und Vorhängen drapierte Glasflächen, das ist alles unecht. Das sind Spiegel. Oder das trübe Sonnenlicht hinter den Buntglasscheiben stammt von kleinen Glühbirnen, die in den hohen Bogenfenstern des gotischen Raucherzimmers den Anschein einer Dämmerung erzeugen.
    Wir suchen immer noch nach Fluchtmöglichkeiten. Wir stehen immer noch vor den verschlossenen Türen und schreien um Hilfe. Nur nicht zu laut. Erst einmal muss unsere Geschichte für einen guten Film taugen. Erst einmal müssen wir abgemagert genug sein, dass ein Filmstar unsere Rolle übernehmen kann.
    Eine Geschichte, die uns von allen Geschichten unserer Vergangenheit erlöst.
    Im Korridor vor Mr. Whittiers Garderobe hämmert Schwester Vigilante mit der Faust an die Tür und schreit: »Hey, Whittier! Du bist uns heute Morgen ein paar Antworten schuldig«, und man sieht die Dampfwolken ihres Atems bei jedem Wort.
    Die Sonne ist nicht aufgegangen.
    Es ist kalt,

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