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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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weisen, was sie beide da eben gesehen hatten. Alles, was sie jetzt taten, war bloß der Beginn irgendeines anderen dummen, zum Scheitern verurteilten Traums.
    Sie konnten noch einen Film machen. Ihre Produktionsfirma gründen. Nur würden sie jetzt bei allem, was sie machten, wissen, dass es nicht echt war. Sie würden niemals so sein, wie sie es sich vorgestellt hatten.
    Und ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengten, ganz gleich, wie viel Geld sie verdienten, am Ende würden sie beide sterben.
    In wenigen Tagen hatten sie mit einer geliehenen Kamera alles aufgebraucht, was ihnen an Interesse füreinander für ein ganzes Leben zugeteilt gewesen war. Keiner der beiden hatte noch irgendetwas Geheimnisvolles.
    Der Verleih rief ständig an, sie sollten die Kamera und die Lampen zurückbringen. Ihre Kreditkarte wurde so lange belastet, bis die Clarks mehr Schulden hatten als Ersparnisse.
    Der Tag, an dem sich Nelson Clark aus dem Bett wälzte und Kamera und Lampen einpackte, um sie zurückzubringen - an diesem Tag kam er nicht nach Hause.
    Eine Woche danach kam auch Mrs. Clarks Periode nicht.
    »Diese zwei Riesenbrüste«, sagt Mrs. Clark, »hatte ich eigentlich von der Steuer absetzen wollen.« Sie sehen nur aus wie etwas Großes und Mütterliches. Und jetzt war ein Baby unterwegs.
    Nelson Clark kam nie mehr nach Hause zurück. In einer Stadt von dieser Größe verdrücken sich Jahr für Jahr Hunderte von Ehemännern. Laufen Kinder von zu Hause, weg. Ehefrauen. Verschwinden spurlos.
    Na und.
    Tess Clark hat das Video verbrannt, aber es läuft immer noch ab, sobald sie nur die Augen schließt. Selbst heute, sechzehn Jahre danach. Selbst heute, da ihr Kind zur Welt gekommen, aufgewachsen und gestorben ist.
    Das Baby, das sie Cassandra genannt hat.

9
    Auf dem schweren Tisch aus dunklem Holz im italienischen Renaissance-Salon findet Mrs. Clark die Direktorin Dementi. Von allen vier Kanten des Tischs tropft Blut. Schon ist das klebrige Blut mit einer Schicht Katzenhaare bedeckt. Um einen Unterarm der Direktorin Dementi ist ein zusammengedrehter Nylonstrumpf gebunden. In der Tischplatte steckt ein Küchenbeil. Oberhalb des Nylonstrumpfs liegt eine Hand der Direktorin in einer dunkelroten Pfütze.
    Auf dem Fußboden unter dem Tisch kaut Cora Reynolds an einem abgetrennten Zeigefinger.
    »Meine Liebe«, sagt Mrs. Clark und betrachtet den verkrusteten blutigen Stumpf, während die Direktorin einen Fetzen gelber Seide darum herumwindet. Das Blut sickert durch den gelben Stoff. Mrs. Clark tritt vor, um ihr zu helfen, die Seide fester zu wickeln, und sagt: »Wer hat Ihnen das angetan?«
    Direktorin Dementi zerrt den Nylonstrumpf fester zu und sagt: »Das haben Sie getan.«
    Unterdessen sind wir alle auf der Suche.
    Wir alle suchen nach Möglichkeiten, unsere Rolle aufzumotzen. Um nach unserer Rettung weit vorn im Rampenlicht zu stehen.
    Außerdem können wir jetzt die Katze füttern.
    Wer das größte Leid und die meisten Narben aufzuweisen hat, wird für die Öffentlichkeit die Hauptrolle spielen. Träfe die Außenwelt in diesem Augenblick zu unserer Rettung ein, wäre die Direktorin Dementi das größte Opfer von uns allen könnte mit den Stümpfen ihrer abgeschnittenen Finger und Zehen wedeln und das ganze Mitgefühl für sich einheimsen. Damit wäre ihr die Hauptrolle sicher. Block A jeder Talkshow.
    Womit uns bloß noch Nebenrollen blieben.
    Um nicht aus dem Feld geschlagen zu werden, hat sich der dünne Sankt Prolaps beim Killerkoch ein Küchenbeil ausgeliehen und sich den Daumen der rechten Hand abgehauen. Eine radikale Daum-Ektomie.
    Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, hat Reverend Gottlos sich ebenfalls das Küchenbeil ausgeliehen und sich an beiden Füßen den kleinen Zeh abgehackt. »Erstens, um berühmt zu werden«, erklärte er, »und zweitens, damit ich endlich mal richtig schlanke Schuhe tragen kann.«
    Die grünen Tapeten und Seidengardinen des italienischen Renaissance-Salons, bespritzt und bekleckert mit schwarzem Blut, schwarz vom elektrischen Licht. Der Fußboden, der Teppich, ist so klebrig, dass einem jeder Schritt schier die Schuhe auszieht.
    Missing Link sagt, einen Finger zu verlieren, lenkt die Gedanken tatsächlich vom Hunger auf andere Gegenstände. Er trägt ein Bischofsgewand, weißer Brokat, Goldstickereien an den Rändern, aus dem Kragen quillt seine schwarze Brustbehaarung. Dazu eine gepuderte Perücke, unter der sein zottelbärtiger, klobiger Schädel doppelt so groß erscheint.
    Der Herzog der

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