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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Diese Kette des Voyeurismus - die Clarks, die Leute beobachteten, die wieder andere Leute beobachteten, die wieder andere Leute beobachteten -, das war ein gutes Gefühl. Das Video, das die Clarks sich ansahen, war mindestens fünf Jahre alt. Die Männer hatten dicke Koteletten, und die Frauen trugen riesige Ohrringe und glitzernden blauen Lidschatten. Wie alt der Film war, den diese Leute sahen, wusste kein Mensch, aber es war wohltuend, zu wissen, dass sie alle durch Dezennien hindurch miteinander verbunden waren wie die Glieder einer Gänseblümchenkette.
    Diese Videoleute waren vor der Kamera so alt wie die Clarks, jetzt mussten sie bereits in die Jahre gekommen sein. Sie sahen jung aus, hatten muskulöse Arme und Beine, aber sie bewegten sich irgendwie zu schnell, als sei das, auf was sie da neben der Kamera starrten, eine Uhr.
    Um sich zum Lächeln zu bringen, erzählten Tess und Nelson einander abwechselnd, was sie mit dem Geld tun wollten.
    Ein Haus kaufen.
    Nach Mexiko reisen.
    Echte Filme drehen. Dokumentarfilme. Sie würden eine eigene unabhängige Produktionsfirma gründen und niemals mehr für andere Leute arbeiten. Niemals mehr.
    Ihr Kind würden sie Cassie nennen, wenn es ein Mädchen würde.
    Baxter, wenn es ein Junge würde. Statt eines altmodischen Geburtsvideos würden sie ihrem Kind eines Tages seine Empfängnis zeigen. Baxter würde sehen, was für scharfe Feger seine Eltern einmal waren. Wie progressiv sie sich dabei vorkamen.
    Und danach würden sie niemals mehr Sex haben müssen. Niemals mehr.
    Je schlimmer die Arbeit wurde, desto mehr Einnahmen erwarteten sie sich davon. Je mehr es wehtat, ihre wund gescheuerte Haut zu berühren oder sich wieder auf die kalte, schweißgetränkte Matratze zu legen, desto strahlender mussten sie sich ihre Zukunft ausmalen. Das Gesicht tat ihnen weh vom vielen Lächeln. Ihre Haut war feuerrot vom vielen Streicheln. Und je weiter sie ihren Marathon trieben, desto größer und unwahrscheinlicher musste ihre Belohnung werden.
    Und dann, so plötzlich, wie ein Arzt sagt, dass man eine tödliche Krankheit hat, so plötzlich, wie ein Richter ein Todesurteil verkündet, waren sie fertig.
    Die Clarks hatten alles miteinander getan, was zu tun ihnen nur eingefallen war. Jetzt mussten sie noch das Video bearbeiten.
    Das sollte der angenehme Teil der Arbeit sein.
    Der Unterschied zwischen dem, wie man aussieht, und dem, wie man sich selbst sieht, kann Menschen in den Selbstmord treiben.
    Und vielleicht sterben Vampire nur deswegen nicht, weil sie sich selbst nie auf Fotos oder im Spiegel sehen können.
    »Wir konnten das Material bearbeiten, wie wir wollten«, sagt Mrs. Clark, »aber es hat alles nicht geholfen.«
    Sie hätten so viel Aerobic machen können, wie sie wollten, sich so vielen Operationen unterziehen können, wie nur denkbar, aber nie hätten sie so ausgesehen, wie sie es sich vor dem Betrachten dieser Aufnahmen vorgestellt hatten. Was sie da sahen, waren bloß zwei nahezu unbehaarte Tiere, unbehaart und dunkelrosa und kein bisschen wohlgeformt; so sehen nur Hundemischlinge aus, kurze Beine, langer Hals und fetter Rumpf ohne erkennbare Taille. Sie grinsten einander von einem Ohr zum andern an und schielten dabei nach der Kamera, um sich zu vergewissern, dass jemand ihnen Aufmerksamkeit schenkte. Sie zogen krampfhaft den Bauch ein.
    Schlimmer als ihre alltägliche Hässlichkeit war der Beweis, dass sie alt wurden. Dünn saugten sich ihre Lippen aneinander fest, schlaff und wie gedunsen hing die lose Haut um jede Körperöffnung. Ihre Körper schaukelten im Takt wie eine alte Maschine, die man so lange auf Hochtouren laufen lässt, bis sie zusammenbricht.
    Nelsons Erektion sah krumm und schmutzig aus, wie etwas aus dem Abfalleimer im Hinterhof eines chinesischen Gemüseladens. Tess' Lippen und ihre Brust wirkten geradezu grotesk riesenhaft, die Narben leuchteten wie Feuer.
    Na und.
    Tess Clark weinte, als sie und Nelson sich so aus allen Blickwinkeln und in allen Stellungen sahen. Ihre Körper in allen Einzelheiten, von den Sohlen ihrer Füße bis zum Hinterkopf, die Geheimnisse zwischen ihren Beinen und die Haare unter ihren Achseln, sie sahen sich das alles an, bis das Band zu Ende war und sie im Dunkeln saßen.
    Das war alles, was sie waren.
    Danach schien selbst das Weinen bloß wie ein zum Scheitern verurteilter Versuch, den nächsten Augenblick zu überstehen. Jede Gefühlsäußerung schien bloß ein alberner und sinnloser Versuch zu sein, von sich zu

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