Die Kolonie
Vandalen trägt zu seinem Pferdeschwanz ein Wildlederhemd und eine Hose, deren Nähte alle mit langen Fransen besetzt sind. Er kaut seinen Nikotinkaugummi. Mutter Natur humpelt in hochhackigen Sandalen herum, man sieht ihre abgeschnittenen Zehen. Ihre Glöckchenkette bimmelt bei jedem Hinkeschritt. Sie knabbert an einer Muskat-Nelken-Aromatherapiekerze.
Wir alle tragen gegen die Kälte rüschige Dichterhemden ä la Byron. Oder Petticoats und lange Röcke ä la Mary Shelley. Umhänge ä la Dracula mit roten Flecken. Schwere Frankenstein-Stiefel.
Sankt Prolaps fragt, ob er die Rolle des Verliebten haben kann.
Jedes epische Werk braucht eine Nebenhandlung, in der es um Liebe geht, sagt er und hält sich mit einer Hand die Hose fest. Um den Markt abzudecken, brauchen wir zwei junge Leute, die sich verzweifelt lieben - aber von einem grausamen Schurken nicht zueinander gelassen werden.
Sankt Prolaps und Miss Rotz, ins Gespräch vertieft im italienischen Renaissance-Salon mit seinen bestickten Sesseln und den grünen Seidenvorhängen zwischen den hohen Fensterspiegeln: genau die richtige Umgebung für eine Liebesgeschichte.
»Ich hab mir überlegt, ich könnte mich in Genossin Snarky verlieben«, sagt Sankt Prolaps.
Neben ihnen steckt das Küchenbeil in der Tischplatte: Mr. Whittiers Geist wartet auf das nächste Opfer.
Miss Rotz putzt sich die Nase schief und fragt, ob Genossin Snarky schon weiß, dass sie in ihn verliebt sein soll. In der Vermarktungsphase nach unserer Rettung müssen wir Paare bilden und wenigstens so tun, als seien wir verliebt. Wie wir hier drin zueinander gestanden haben, spielt keine Rolle, aber sobald wir herauskommen, müssen wir uns jedes Mal küssen, wenn irgendwo eine Kamera auftaucht. Das Publikum wird Hochzeiten erwarten. Womöglich sogar Kinder.
Miss Rotz blinzelt mit ihren blutunterlaufenen Augen und sagt: »Such dir ein Mädchen aus, das zu lieben du bis an dein Lebensende vortäuschen kannst.«
Sankt Prolaps sagt: »Wie wär's mit mir und der Gräfin Weitblick?«
Sankt Prolaps sieht die Sache so: Eine vorgetäuschte Ehe ist immer noch besser, als sich die Finger abzuhacken. Jede Frau hier sollte die Gelegenheit ergreifen.
Und lächelnd schaut Miss Rotz ihm ins Gesicht und sagt: »Wie wär's denn mit uns beiden?«
Und Sankt Prolaps sagt: »Wie wär's mit Baronin Frostbeule?«
»Die hat keine Lippen«, sagt Miss Rotz. »Ich meine, die hat wirklich keine Lippen.« Wie wär's mit Miss America?
»Die wird schon berühmt, weil sie schwanger ist«, sagt Miss Rotz. Sie sagt: »Ich bin nicht schwanger und ich habe Lippen ...«
Direktorin Dementi hat sich bereits ein paar Finger abgehackt. Ebenso Schwester Vigilante - und noch ein paar Zehen dazu, mit demselben Obstmesser, das Lady Tramp sich vom Killerkoch ausgeliehen hat, um sich ein Ohr abzuschneiden. Sie planen, nach unserer Rettung aller Welt zu erzählen, das sei Mr. Whittiers Strafe gewesen: Für jeden Tag, an dem sie kein großes Kunstwerk hervorgebracht hätten, habe er ihnen etwas abgehackt. Beziehungsweise Mrs. Clark habe das Hacken übernommen, während Mr. Whittier das kreischende Opfer auf dem Tisch im italienischen Renaissance-Salon festgehalten habe.
Der Tisch ist mit tiefen Kerben übersät, jede dieser Kerben das Ergebnis eines mehr oder weniger erfolgreichen Versuchs mit dem Küchenbeil.
»Okay«, sagt Sankt Prolaps. »Wie wär's mit Mutter Natur?«
Klar, es geht ihm bloß darum, sich die Füße massieren zu lassen, mal was Neues auszuprobieren. Den Superorgasmus per Fußmassage. Noch eine Methode, bei der man die Hände frei hat, ähnlich wie die unsichtbare Möhre, das Kerzenwachs oder der Swimmingpool. Nicht direkt eine romantische Nebenhandlung, eher ein sexuelles Bedürfnis.
Schon besser, sagt Miss Rotz. Sie sagt: »Du weißt doch, was Mutter Natur mit ihrer Nase gemacht hat?«
Die arme Miss Rotz, sie hustete unablässig wegen der Schimmelsporen, die wir einatmen mussten, aber was sie zu leiden hatte war nichts im Vergleich zu Mutter Natur, die sich ein Filetiermesser ausgeborgt hatte, um sich beide Nasenlöcher bis obenhin aufzuschlitzen - Glöckchen klingelten und Schorf rieselte nun jedes Mal, wenn sie lachte.
Aber die romantische Nebenhandlung brauchten wir trotzdem. Irgendeine Liebesgeschichte.
In Wirklichkeit war es Mr. Whittier, der Mutter Natur die Nase aufgeschlitzt hatte.
»Aber der ist tot«, sagt Mrs. Clark.
Mr. Whittier hat es getan, bevor er gestorben ist, sagt Missing Link. Wo sich
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