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Die Kolonie

Die Kolonie

Titel: Die Kolonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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»Drei Stunden, siebzehn Minuten und dreißig Sekunden, bis das Licht gelöscht wird ...«
    Für Schwester Vigilante ist das Gespenst ein Held, dessen eine Gesichtshälfte eingeschlagen ist.
    Für Miss Rotz ist das Gespenst ihre Großmutter.
    Hier oben, sagt der Kuppler, sieht man die Decke als unerforschtes Neuland, in das noch niemand einen Fuß gesetzt hat. So wie man als Kind, wenn man kopfüber auf dem Sofa saß die Beine auf der Rückenlehne, den Rücken auf den Sitzpolstern, den Kopf vorne frei herabhängend -, das vertraute Wohnzimmer als einen neuen, ganz fremden Ort erlebte. Aus dieser Perspektive war die Decke ein weiß getünchter Fußboden und der Fußboden eine Decke, die mit einem Teppich beklebt war und von der lauter Stalaktiten aus Möbeln hingen.
    So wie ein Künstler, sagt der Herzog der Vandalen, sein Bild verkehrt herum oder im Spiegel betrachtet, um es gleichsam mit den Augen eines Fremden zu sehen. Als etwas, das er nicht kennt. Als etwas Neues und Neuartiges. Die Wirklichkeit eines anderen.
    Genau so, sagt Sankt Prolaps, wie ein Perverser seine Pornobilder verkehrt herum betrachtet, damit sie ihm noch etwas länger neu und erregend erscheinen.
    Nicht anders ist hier jeder Baum aus Kristallblättern und Glaspfirsichen mit: dem aus Kabel und Kette geflochtenen Stamm in der Decke verwurzelt, einem Stamm mit einer Rinde aus staubigem roten Samt.
    Als der Baum fast ganz dunkel ist, versetzen wir unsere Leiter Stuhl für Stuhl und Sofa für Sofa unter den nächsten Baum. Als der »Obstgarten« leer gepflückt ist, gehen wir durch die Tür in den nächsten Raum.
    Die geernteten Pfirsiche verstauen wir in einer Hutschachtel.
    Nein, nicht alle Tage unserer Gefangenschaft sind mit Entführung und Demütigung angefüllt.
    Graf Schandmaul zieht einen Notizblock aus seiner Hemdtasche. Er schreibt etwas auf das blau linierte Papier und sagt: »Zweiundsechzig funktionierende Glühbirnen. Und zweiundzwanzig in Reserve.«
    Unsere letzte Verteidigungslinie. Unser letztes Mittel gegen die Vorstellung, hier zu sterben, allein gelassen in der Dunkelheit, wenn alle Lampen ausgebrannt sind. Überlebende, die frierend in der Finsternis umhertappen, in einer Welt ohne Sonne. Entlang an feuchten, von Schimmel glitschigen Tapeten.
    Keiner will das.
    Wenn die zurückgelassenen reifen Pfirsiche erlöschen und faulen, bauen wir die Leiter aus Möbeln wieder auf. Erklettern sie. Stecken den Kopf ins Gewirr der Glasblätter und angelaufenen Messingzweige. Staub und Mäusedreck und Spinnweben. Und ersetzen die dunklen Pfirsiche durch ein paar, die noch reif sind und brennen.
    Der tote Pfirsich in der Hand des Kupplers zeigt uns nicht so, wie wir sind. Eher so, wie wir waren. Unsere Spiegelbilder in dem gewölbten, dunklen Glas sind alle rund und fett. Die Schicht aus Wolframatomen, die sich an der Innenseite niedergeschlagen haben, das Gegenteil einer Perle, der Silberschicht eines Spiegels. Geblasenes Glas, dünn wie eine Seifenblase.
    Da wäre Mrs. Clark mit ihren neuen Falten, die sie hinter einem Schleier dick wie Hühnerdraht versteckt. Obwohl sie bis auf die Knochen abgemagert ist, sehen ihre Lippen noch silikonfett aus, wie mitten im Blowjob erstarrt. Ihre Brüste füllen sich noch mehr, aber mit einem Stoff, den man bestimmt nicht auslutschen möchte. Ihre puderweiße Perücke hängt nach einer Seite. Die Sehnen an ihrem Hals stehen hervor wie Stricke.
    Da wäre Missing Link mit dem dunklen Wald auf seinen Wangen, die Bartstoppeln eingesunken in den tiefen Schluchten, die sich von beiden Augen hinabziehen.
    Es muss etwas passieren.
    Etwas Schreckliches muss passieren.
    Und - peng.
    Ein Pfirsich ist aus einer Hand gefallen und am Boden zerschellt. Alles voller Glasnadeln und weißer Splitter. Das Bild von uns als rund und fett - weg ist es.
    Graf Schandmaul schreibt eine Zeile in seinen Notizblock und sagt: »Einundzwanzig funktionierende Glühbirnen in Reserve ...«
    Schwester Vigilante klopft auf ihre Armbanduhr und sagt: »Drei Stunden und zehn Minuten, bis das Licht gelöscht wird...«
    Und Mrs. Clark sagt: »Erzähl mir eine Geschichte.« Durch ihren Schleier sieht sie zum Kuppler in seinem glitzernden Kristallbaum hoch, und ihre Silikonlippen sagen: »Erzähl mir was, damit ich meinen Hunger vergesse. Erzähl mir eine Geschichte, die du noch keinem Menschen erzählen konntest.«
    Seine Hände, in einen von getrocknetem Blut klebrigen Fetzen Samt gewickelt, drehen an einem Pfirsich. Er sagt: »Ich kenne einen

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