Die Kolonie
und fragten, was dieses Geräusch zu bedeuten habe. Und diese Handbewegung?
Das sei eine ganz alte Geschichte, erzählte dann vielleicht ein Onkel. Das Geräusch stamme aus der Zeit, als die Onkel als junge Männer bei der Armee waren. Im Krieg. Die Kinder kletterten auf den Onkeln herum, hielten sich an Rock- und Hosentaschen fest wie Bergsteiger.
Und sie bettelten: erzählen. Erzählt uns die Geschichte.
Worauf ein Onkel allenfalls versprach: später. Wenn sie groß seien. Der Onkel schnappte sich ein Kind und warf es sich über die Schulter.
Und lief dann, rannte mit den anderen Onkeln ins Haus, und da wurden die Tanten geküsst und noch ein Stück Kuchen gegessen. Und Popcorn gemacht und Radio gehört.
Es war die Losung der Familie. Ein Geheimnis, das die meisten von ihnen nicht verstanden. Ein Ritual, das ihnen Sicherheit gab. Die Kinder wussten nur, es brachte sie alle zum Lachen. Es war etwas, das nur sie kannten.
Die Onkel sagten, das Geräusch sei der Beweis dafür, dass sich selbst die schlimmsten Befürchtungen einfach so in Luft auflösen könnten. Da könne etwas noch so Furchtbares drohen, am nächsten Morgen schon war es vielleicht nicht mehr da. Wenn eine Kuh starb und die anderen Kühe krank aussahen, dick geblähte Bäuche hatten und auch zu sterben drohten, wenn gar nichts mehr zu helfen schien, machten die Onkel dieses Geräusch. Schuu-ruuk. Wenn die Pfirsiche im Garten zu reifen begannen und für die Nacht Frost vorhergesagt wurde, machten die Onkel: schuu-ruuk. Es bedeutete, dass das Schreckliche, das man selbst nicht verhindern konnte, vielleicht einfach von selbst verschwand.
Immer wenn die Familie sich traf, begrüßte man sich mit schuu-ruuk. Die Tanten verdrehten die Augen, wenn die Kinder dieses alberne Schuu-ruuk machten. Alle Kinder bewegten die Hand quer vorm Hals und machten schuu-ruuk. Und die Onkel lachten so sehr, dass sie sich mit beiden Händen auf den Knien abstützen mussten. Schuu-ruuk.
Manchmal fragte eine Tante, die in die Familie eingeheiratet hatte: Was bedeutet das? Was für eine Geschichte steckt dahinter? Aber die Onkel schüttelten nur den Kopf. Und der Onkel, der mit ihr verheiratet war, schob ihr einen Arm um die Hüfte, küsste sie auf die Wange und sagte: Schätzlein, ich glaub nicht, dass du das wirklich wissen willst.
In dem Sommer, als ich achtzehn wurde, erzählte mir ein Onkel die Geschichte. Allein. Und diesmal lachte er nicht.
Ich hatte den Einberufungsbefehl bekommen, und niemand konnte wissen, ob ich jemals von der Armee zurückkommen würde.
Es war zwar nicht Krieg, aber in der Armee ging die Cholera um. Und es gab auch andere Krankheiten, Unfälle. Mein Onkel half mir beim Kofferpacken, und dabei machte er: schuu-ruuk. Denk immer daran, sagte er, egal wie schwarz die Zukunft aussieht, schon morgen können alle deine Schwierigkeiten verschwunden sein.
Ich legte Sachen in meinen Koffer und fragte, was dieses Geräusch bedeute.
Das sei aus dem letzten großen Krieg, sagte er. Die Onkel waren alle im selben Regiment. Sie gerieten in Gefangenschaft und mussten in einem Lager arbeiten. Ein Offizier der feindlichen Armee zwang sie mit vorgehaltener Waffe zu arbeiten. Sie mussten täglich damit rechnen, dass dieser Mann sie tötete, und sie konnten nichts dagegen unternehmen. Woche für Woche trafen Züge mit Gefangenen aus besetzten Ländern ein: Soldaten und Zigeuner. Die meisten hatten den Zug verlassen und waren keine zweihundert Schritt weit gekommen, da wurden sie erschossen. Die Onkel mussten die Leichen wegschleppen. Der Offizier, den sie so hassten, leitete das Erschießungskommando.
Mein Onkel erzählte, Tag für Tag hätten die Onkel die Toten wegschaffen müssen - aus ihren zerschossenen Kleidern quoll noch das Blut -, und während sie die Toten einsammelten, wartete das Erschießungskommando schon auf die nächsten Gefangenen. Und jedes Mal, wenn die Onkel vor diese Gewehre traten, rechneten sie damit, dass der Offizier Befehl zum Feuern geben würde.
Und eines Tages sagte der Onkel: schuu-ruuk.
Es geschah, wie es das Schicksal eben wollte.
Wenn der Offizier eine Zigeunerin sah, die ihm gefiel, holte er sie aus der Reihe. Während die anderen erschossen wurden und die Onkel die Leichen wegschleppten, befahl der Offizier dieser Frau, sich auszuziehen. Er stand da in seiner Uniform, behängt mit goldenen Tressen, die in der Sonne leuchteten, umgeben von seinen Schützen, und befahl der Zigeunerin, sich vor ihm auf die Erde zu knien und
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