Die Kolonie
lag.
»Du wirst diese Waffe nicht gegen mich benutzen«, sagte
David und näherte sich ihr auf Handbreite. »Ich kann dich
nicht bei diesen Verrückten zurücklassen. Es ist viel zu
gefährlich.«
»Ich will aber nicht mitgehen.«
Er streckte die Hand aus, nahm ihr die Waffe ab und steckte sie in
seinen Gürtel. Dann ergriff er sie bei den Schultern, gab ihr
einen Kuß und nahm sie in die Arme.
»Ich habe dich schon mal getragen, ich kann es diesmal
auch.«
»Laß mich sofort los!« rief Bahjat und versuchte,
sich aus seinem Griff zu befreien.
Er aber hob sie sich auf die Schultern wie ein Feuerwehrmann.
»Hör zu, Mädchen. Ich bin viel größer und
kräftiger als du… und auch etwas
hartnäckiger.«
»Du kannst mich doch nicht wie ein Bündel Stroh mit dir
herumschleppen«, sagte Bahjat und mußte unwillkürlich
lachen. »Sei gescheit!«
»Du gehst mit«, versetzte David, indem er auf die
Tür zuging, »entweder auf eigenen Füßen oder
meinetwegen wie ein Bündel Stroh. Entscheide dich.«
»Laß mich runter!«
»Willst du mitgehen?«
»Ja.«
Er ließ sie von seinen Schultern gleiten und stellte sie auf
die Füße.
Bahjat musterte ihn für einen Augenblick schweigend. Dann
gellte wieder ein Schrei durch die Nacht, zweifellos der Schrei einer
Frau. Bahjat erschauerte.
»Wenn die uns erwischen…«
»Immer noch besser, als hier herumzusitzen und zu warten, bis
sie kommen.«
»Du irrst.«
»Ich kann nicht einfach die Hände in den Schoß
legen«, sagte David.
Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und meinte: »Nun
gut, laß uns gehen.«
Sie traten auf den verdunkelten Flur hinaus und schlichen die
Treppe zur beleuchteten Hotelhalle hinunter. Von der Treppe aus
konnten sie eine Menge Leute sehen: junge Männer und Frauen mit
Gewehren über der Schulter, die gruppenweise auf dem Boden
lagerten, wobei sie sich leise und ernst unterhielten. Am anderen
Ende der Halle lagen Tote sauber aufgereiht. Der Geruch von Tabak,
Schweiß, Marihuana und Angst hing in der verpesteten Luft.
Aber David fiel noch etwas auf.
»Schau«, flüsterte er Bahjat zu, während sie
über die dunkle Treppe schlichen, »dort drüben. Ist
das kein Telefon?«
Sie nickte schweigend.
»Ob es wohl noch funktioniert?«
»Willst du ein Taxi rufen?« flüsterte sie.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren richtete David sich auf und
eilte die Treppe hinunter. Bahjat ging an seiner Seite.
Alles in Ordnung, sagte er zu sich. Kein Mensch nimmt
von uns Notiz. Wir sind beide braun genug, um ins Bild zu passen.
Außerdem ist sie ja die berühmte Scheherazade – eine
von ihnen, eine Heldin.
Das Telefon funktionierte tatsächlich noch, und David stellte
rasch eine Verbindung mit der computerisierten Service-Zentrale her,
während Bahjat am Empfang stand und das Treppenhaus und die
Halle beobachtete. David suchte den Stadtplan nach irgendwelchen
Fluchtwegen ab: Straßen, Untergrundbahntunnels, Kanäle,
Versorgungsgewölbe.
Das ist es! wurde ihm plötzlich klar, während die
verschiedenen Tunnels auf dem Kompaktschirm des Fernsprechers
erschienen. Er befragte den Computer nach dem kürzesten Weg zur
Fifth Avenue und zum südlichen Teil des Central Parks. Der
Computer, der seit Jahr und Tag daran gewöhnt war, gesprochene
Befehle in Englisch oder Spanisch von einer Bevölkerung zu
akzeptieren, die zum Großteil aus Analphabeten bestand,
reagierte mit elektronischer Geschwindigkeit und Präzision.
Innerhalb von wenigen Minuten hatte David alle Informationen, die
er brauchte. Er hängte ein und wandte sich an Bahjat.
»Alles bestens. Jetzt weiß ich, wie wir hier rauskommen
und wo wir hingehen.«
Sie hob fragend die Brauen.
»Es gibt einen Hafen, der mit kleinen Booten vollgestopft
ist, westlich von hier, am Hudson River. Wir können ihn
unterirdisch durch den Telefonkabelschacht erreichen.«
»Wahrscheinlich wurden die Boote zerstört«, wandte
Bahjat ein.
»Vielleicht. Aber selbst dann könnten wir ein Versteck
finden, wo wir für die nächsten paar Tage
unterschlüpfen können. Ich mag aber wetten, daß wir
da mehr als ein Boot finden werden.«
Es dauerte Stunden.
Ursprünglich waren die Tunnel so gebaut worden, daß man
sie begehen konnte. Sie waren weit genug, um einem Bediensteten der
Telefongesellschaft genügend Raum zu bieten, wenn
Reparaturarbeiten durchzuführen waren, und an den langen,
verwundenen Kabelsträngen zu arbeiten. Doch im Lauf der
Jahrzehnte waren immer mehr Kabel verlegt worden, wodurch der
verfügbare Raum
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