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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Deckert
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Nach zwei Jahren hatte er alles gesehen, was am Himmel über Benton Harbor, Michigan, zu sehen war. Er würde ein größeres Teleskop brauchen und einen dunkleren Himmel. Seine Wahl fiel auf Tucson und die Anglistikabteilung der University of Arizona. Jetzt lagen bis zu tausend Deep-Space-Objekte in seiner Reichweite. Es waren die Siebzigerjahre, und Tucson wurde zum Zentrum der Gegenkultur im Südwesten. Studenten gründeten Rockbands und LSD-WGs. Es gab Polizeirazzien, der Kulturkampf war alles andere als gewaltlos, Soldaten des nahegelegenen Luftwaffenstützpunkts machten Jagd auf Hippies. Nicht nur Tucson, der ganze Südwesten der USA wurde in dieser Zeit zum Fluchtpunkt für alternative Lebensentwürfe. Anhänger des »New Journalism« und hoffnungsvolle Jungliteraten fielen mit VW-Bussen in Arizona ein, um in der Nähe der Wüste »ihre Stimme« zu finden. Livingston bekam all das mit, ohne ein Teil davon zu sein. Er lebte wie ein Polarforscher am Rande einer Pinguinkolonie. Er heiratete eine wissenschaftliche Mitarbeiterin seines Instituts, wurde Vater, wurde ein Mann mit Verantwortung. Er musste sich die Zeit für seine Beobachtungen genau einteilen. Meistens suchte er drei Stunden pro Nacht, zwei in der Abenddämmerung, wenn seine Tochter schlief, und eine in der Morgendämmerung.
    »Im Bett findet man keine Kometen«, hatte der Jäger Lewis Swift gesagt – eine grausame Wahrheit, die Livingston zu spüren bekam.
    Morgens war er oft übermüdeter als seine Studenten, denen er Henry den IV. nahebringen musste. Nachts sah er elliptische Galaxien, die Kometenschweifen ähnelten. Unregelmäßige Galaxien, die sich als Kometen tarnten. Kleine, dichte Sternhaufen, die Kometen zum Verwechseln ähnlich sahen. Wie einst Messier näherte er sich seinem Gegenstand nach dem Ausschlussverfahren. Und endlich bemerkte er, dass seine Arbeit Früchte trug.
    Im Sommer 1975 fand er den Kometen Kobayashi-Berger-Milon mit seinem Fernglas – zwei Wochen nach seiner Entdeckung. Er hatte ihn gesehen, ohne seine Position zu kennen. Den Kometen Kohler fand er genauso unabhängig, aber bei schlechtesten Bedingungen, unter einem lichtverschmutzten Stadthimmel. Manchmal kam er nur noch wenige Tage zu spät. Manchmal eine einzige Nacht. Livingston spürte, dass seine Zeit nahe war.
    Am Abend des 24. November 1977, einem Donnerstag, war er zu einem formlosen Thanksgiving-Dinner bei Freunden eingeladen. Livingston war kein besonders guter Partygast. Wie immer an solchen Abenden konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, die echte Party, draußen unter dem Himmel, zu verpassen. Der Truthahn ließ im Ofen auf sich warten, und als der Kometenjäger mit einem Blick durchs Dachfenster sah, dass die Wolken sich verzogen, wurde er immer nervöser. Gegen zehn schnitt der Gastgeber den Truthahn an, dem Brauch entsprechend zerbrachen zwei Gäste den »Wishbone«, den Gabelknochen des Tiers. Livingston sah mit einem routinierten Blick, dass der Himmel nahezu perfekt war, im Osten hing ein funkelnder Orion-Gürtel. Er aß ein kleines Stück, zwang eine Ladung Mais-Erbsen-Squash hinunter, verzichtete auf den Kürbiskuchen und entschuldigte sich. Er versuchte gar nicht erst, sich eine Ausrede auszudenken. Die Gastgeber entließen ihn mit freundlichem Spott. »Finden Sie was Schönes!«, sagten sie zu ihm.
    Der Himmel war immer noch sternklar, als Livingston die kleine Kuppel am Rande des Gartens öffnete. Er tauchte im Westen ein, wo Cetus, der Wal, gerade unterging, und arbeitete sich senkrecht hinauf in die sternreichen Gebiete der Wintermilchstraße. Seine Augen begannen wieder automatisch zu funktionieren wie die Hände eines Klavierspielers bei einem oft geübten Stück. Eine Mischung aus Konzentration und Routine, bei der es darauf ankam, die Spannung nie zu verlieren. Alle paar Sekunden schob er den Sechszöller ein Stück weiter, immer die gleichen Intervalle, vom Horizont zum Zenit, vom Horizont zum Zenit.
    Livingston wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war oder woran er gerade dachte, als er zum ersten Mal aus seiner Routine gerissen wurde.
    Mit seinen Augen befand er sich im Einhorn, einem unauffälligen Sternbild der Wintermilchstraße auf halber Strecke zwischen Sirius und der Orionschulter. Das Objekt in seinem Ausschnitt kannte er. Es war Hubbles veränderlicher Nebel, der »Santa-Claus-Nebel«, so benannt wegen des langen weißlichen Schleiers, der wie ein Bart aussah. Was den Jäger diesmal innehalten ließ, war aber nicht der

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